Die #Hartz-IV-Reform -->> Es #wird #wieder #akzeptiert, #Menschen in #nützliche und #unnütze zu #unterteilen
Ein enormer Schub im Massenbewusstsein
hat soziale Normen verändert.
zu unterteilen
Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, besser als
Hartz IV bekannt, ist nun also zehn Jahre in Kraft. In dieser Zeit haben sich
der Sozialstaat und die deutsche Gesellschaft grundlegend verändert. Für den
damit verbundenen Wertewandel gibt es bisher aber nur wenig Sensibilität:
Erwerbslose, Arme und ethnische Minderheiten stoßen heute auf noch größere
Ressentiments. Markt, Leistung und Konkurrenz sind dagegen zentrale Bezugspunkte
der Gesellschaftsentwicklung geworden. Die Maxime Wenn jeder für sich selbst
sorgt, ist für alle gesorgt findet 2015 erheblich mehr Widerhall als zu einer
Zeit, da man die SPD mit sozialer Gerechtigkeit und Solidarität als
traditionellen Grundwerten noch für die berufene Interessenvertreterin der
Schwächeren hielt.
Über die Nöte der Arbeitslosengeld-II-Bezieher und die
Disziplinierungseffekte der Reform für Belegschaften, Betriebsräte und
Gewerkschaften hinaus ist es daher auch wichtig, bei einer Zehn-Jahres-Bilanz
die gravierenden Verschlechterungen des sozialen Klimas und die Anzeichen für
den Verfall der politischen Kultur zu thematisieren. Denn Hartz IV hat nicht
bloß materielle Verwüstungen bei den Transferleistungsempfängern, sondern auch
mentale Verwerfungen in den Köpfen ihrer Mitbürger angerichtet.
Ohne die bewusstseinsverändernde Wirkung der rot-grünen Reformgesetze wären
Thilo Sarrazins abfällige Äußerungen über die einheimische Unterschicht und die
Zuwanderer islamischen Glaubens kaum denkbar gewesen. Ebenso wenig wie die
CSU-Kampagne gegen rumänische und bulgarische Arbeitsmigranten unter dem Motto
Wer betrügt, der fliegt. Auch die jüngsten Wahlerfolge der Alternative für
Deutschland (AfD) muss man vor diesem Hintergrund sehen.
Angst und Zynismus
Mittlerweile kennzeichnen Wohlstandschauvinismus und Sozialdarwinismus die
Hartz-IV-Gesellschaft, in der sich das soziale Klima umso mehr verschlechtert,
je weiter die Armut bis zum Kleinbürgertum vordringt. Verschiedentlich als ein
Gesetz der Angst bezeichnet, hat die Reform aus Deutschland eine Gesellschaft
der Angst gemacht. Teile der Mittelschicht versuchen, ihre keineswegs
unbegründete Furcht vor Statuseinbußen dadurch zu bewältigen, dass sie mit einem
an Menschenverachtung kaum zu überbietenden Zynismus auf Randgruppen, soziale
Absteiger und berufliche Verlierer herabblicken.
Langzeit- und Dauererwerbslose werden heute ungleich stärker als
Sozialschmarotzer etikettiert, stigmatisiert und diskriminiert als vor der
Arbeitsmarktreform. Hartz IV trug in erheblichem Ausmaß zur sozialen
Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils bei,
der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als unproduktiv und
unnütz gilt. Hatte man Bezieher der Arbeitslosenhilfe früher vorwiegend als
Sozialversicherte und ehemalige Beitragszahler wahrgenommen, wurden
Langzeiterwerbslose nach dem Inkrafttreten von Hartz IV und begleitenden
Medienberichten über die wachsende Belastung des Bundeshaushalts durch das
Arbeitslosengeld II weitaus häufiger als Faulpelze und teure Kostgänger des
Steuerstaats wahrgenommen. Im Zuge der globalen Banken- und Finanzkrise
verschärfte sich diese Entwicklung noch.
Seit die rot-grüne Koalition den Arbeitsmarkt restrukturiert und damit
stärker fragmentiert hat, nahm nicht bloß der Druck auf Löhne und Gehälter zu,
sondern auch die Bereitschaft eines Teils der Bevölkerung, ein Anwachsen
extremer Armut hinzunehmen. Es wurde akzeptiert, wenn dadurch nur für mehr
Beschäftigung gesorgt würde. In weiten Bevölkerungskreisen überwog offenbar die
Meinung, dass die Massenerwerbslosigkeit individuelle Ursachen habe und man bloß
den Druck auf die Betroffenen erhöhen müsse, wiewohl mehreren Millionen
Erwerbslosen besonders in Ostdeutschland nur ein Bruchteil offener Stellen
am Arbeitsmarkt gegenüberstanden.
Nur wer Geld verdient, zählt
Zwar gehört die Hoffnung, dass Menschen, die mit jeder Arbeit zufrieden sind
und in Krisenzeiten Verzicht üben, dafür schließlich von allem Leid erlöst
werden, seit Jahrhunderten zum Alltagsglauben des deutschen Protestantismus.
Wenn nicht alles täuscht, haben aber die Hartz-Reformen einen gesellschaftlichen
Mentalitätswandel in Richtung dieser Zumutungsmentalität bewirkt, der sich als
sozialdarwinistischer Schub im Massenbewusstsein niederschlug und dort auf
unabsehbare Zeit spürbar sein dürfte.
Dass sich unter dem Einfluss der Hartz-Gesetze sozialdarwinistische
Stimmungen ausbreiten, beschädigt auch die Demokratie. Am 23. Mai 2008
berichtete die Bild auf ihrer Titelseite über ein Diskussionspapier mit
dem Titel Drei Thesen zur Stärkung der Leistungsträger, in dem Gottfried
Ludewig, damals Bundesvorsitzender des CDU-nahen Rings Christlich-Demokratischer
Studenten (RCDS), eine staatsbürgerrechtliche Privilegierung der sogenannten
Leistungsträger ins Gespräch brachte. Durch eine Neuauflage des
Mehrklassenwahlrechts sollte verhindert werden, dass Langzeit-Erwerbslose und
Rentner weiter gleiche Mitentscheidungsmöglichkeiten haben: Diejenigen, die den
deutschen Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen, müssen in diesem Land wieder
mehr Einfluss bekommen. Die Lösung könnte ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht
sein.
Nach einem großen Medienecho und viel Kritik schloss der RCDS Ludewig wegen
verbandsschädigenden Aussagen aus, der Jung-Politiker entschuldigte sich
öffentlich für seine Provokation. Aber trotzdem erzählt der Vorstoß viel über
die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas gegenüber Leistungsbeziehern.
Wie stark ökonomisches Nützlichkeitsdenken, verbunden mit Biologismus und
Sozialdarwinismus, als Folge der Reform um sich griff, zeigte auch ein Artikel
Gunnar Heinsohns in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im März 2010.
Unter dem Titel Hartz IV und die Politische Ökonomie wies der frühere Bremer
Hochschullehrer auf demografische Trends hin, die ihn eine übermäßige Vermehrung
der Bildungsfernen und eine Überforderung Deutschlands befürchten ließen.
Dabei unterteilt er die Bevölkerung kurzerhand entlang des
Arbeitslosengeld-II-Bezugs in zwei Gruppen: So besteht im Februar 2010 die
Hartz-IV-Bevölkerung von 6,53 Millionen Menschen zu 26 Prozent aus Kindern unter
15 Jahren (1,7 Millionen). Im leistenden Bevölkerungsteil von 58 Millionen
Bürgern unter 65 Jahren dagegen gibt es nur 16 Prozent Kinder (9,5
Millionen).
In Analogie zu Bill Clintons Sozialhilfereform schlug Heinsohn als Lösung
vor, Arbeitslosengeld-II-Empfängern nach einer Gesamtbezugszeit von fünf Jahren
jegliche Transferleistung zu entziehen. Was aus den Betroffenen ohne staatliche
Unterstützung werden soll, ließ er im Dunkeln. Genauso wie er übersah, dass
hierzulande anders als in den USA das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes
gilt. Mit unserer Verfassung sind solche kruden, sich in Teilen der Gesellschaft
immer weiter ausbreitende Ideen nämlich schlicht nicht vereinbar.