Entmündigung + Entrechtung der Betroffenen ohne größeres Aufsehen und somit ohne Widerstand in der Bevölkerung durchzusetzen sucht.
Doktor-Spiele
[via nachdenkseiten.de]
http://www.nachdenkseiten.de/?p=17468#more-17468
Die Bundesagentur für Arbeit
in Nürnberg (BA) sowie die ihr unterstellten Jobcenter sind offensichtlich
dabei, ihr Tätigkeitsfeld zu erweitern: auf das Gesundheitswesen. Schon im April
dieses Jahres wurde eine Weisung der BA publik, nach der angebliche Blaumacher
unter den AlG2-Empfängern entlarvt werden sollen.
Aktuell macht sich nun die
Praxis breit, in offiziellen amtlichen Schreiben Krankheitsatteste von Ärzten
schon vorbeugend für unzureichend zu erklären.
Es scheint, als verfolge man
im Umgang mit Sozialleistungsempfängern die Taktik der kleinen Schritte,
welche mithilfe einer schleichenden Gewöhnung die schrittweise Entmündigung und
Entrechtung der Betroffenen ohne größeres Aufsehen und somit ohne Widerstand in
der Bevölkerung durchzusetzen sucht.
Von Lutz
Hausstein[1]
Die Dienstanweisung der
Bundesagentur für Arbeit, vor allem jedoch die darauffolgende Ausschlachtung in
den Medien, zur Entlarvung vermeintlicher Blaumacher hat die öffentliche
Wahrnehmung von Sozialleistungsempfängern ein weiteres Mal in die Richtung
vermeintlich fauler und arbeitsunwilliger Leistungserschleicher gerückt. Am 8.
April veröffentlichten verschiedene Medien die Information, wonach die
zuständigen Jobcenter verstärkt Krankmeldungen von Sozialleistungsempfängern
überprüfen sollen.
Als Anhaltspunkte für
eine möglicherweise vorgeschobene Erkrankung [PDF - 60.6
KB] werden explizit häufige und häufig kurze
Krankmeldungen, häufige Krankmeldungen zu Beginn oder Ende der Woche,
Krankschreibungen im Zusammenhang mit Meldeterminen, bei Angeboten oder
Abbrüchen diverser Maßnahmen, bei Auseinandersetzungen mit dem persönlichen
Ansprechpartner sowie weiteren spezifischen Umständen aufgeführt.
Diesem Verdacht soll anschließend nachgegangen werden,
indem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingeschaltet wird,
um die jeweilige Erkrankung zu prüfen. Dabei sollen sowohl Beurteilungen des MDK
nach reiner Aktenlage wie auch persönliche Inaugenscheinnahme durch die
MDK-Gutachter angewandt werden. Schon allein diese Handhabung ist prinzipiell
bedenklich. Daran ändert sich auch nichts, wenn man darum weiß, dass diese
Vorgehensweise ebenso durch Arbeitgeber gegenüber ihren erkrankten Mitarbeitern
mithilfe des MDK angewandt werden kann.
Denn es ist reichlich fragwürdig, einer kurzen
Begutachtung durch den MDK eine höhere fachliche Korrektheit zuweisen zu wollen
als der, durch in der Regel langjährige medizinische Begleitung, fachlichen
Einschätzung des jeweiligen Hausarztes. Dieser kennt die Umstände und
Besonderheiten seines Patienten meist ausgezeichnet und kann dessen
Krankheitsdiagnose auch im komplexen Gesundheitsverlauf über einen längeren
Zeitraum individuell einordnen. Somit wirkt die kurze Begutachtung durch die
Beauftragten der Krankenkassen auch als eine Entwertung der verantwortungsvollen
und auch keineswegs immer einfachen Tätigkeit eines Arztes. Es ist nicht
nachvollziehbar, wie eine einmalige Inaugenscheinnahme eines Patienten, erst
recht gar eine Beurteilung nach reiner Aktenlage, die langjährige
Patientenkenntnis des Mediziners nicht nur ersetzen, sondern mit einer genau
gegenteiligen Bewertung unter Umständen gar überstimmen könnte.
Dieses Spannungsverhältnis wird umso denkwürdiger, wenn
man berücksichtigt, in wessen Auftrag der MDK fungiert und wo folglich mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine gewisse Interessenlage zu verorten ist. Der Medizinische
Dienst der Krankenversicherung ist eine, in der Regel auf Länderebene,
fungierende Arbeitsgemeinschaft, welche für alle Krankenkassen Beratungs- und
Begutachtungsleistungen erbringt.
Dabei ist der MDK nicht für eine einzelne Krankenkasse
tätig, sondern wird mittels eines Umlagesystems von allen, im betreffenden
Bundesland aktiven, Krankenkassen finanziert und wird daraufhin gleichfalls von
diesen mit Aufträgen betraut. Somit wird ersichtlich, dass der MDK in seinen
konkreten Einzelentscheidungen zwar nicht vom Interesse einer ganz bestimmten
Krankenkasse gelenkt wird. Dennoch ist zweifelsfrei klar, dass dem
Grundinteresse aller Krankenkassen, einer größtmöglichen Kostenreduzierung,
durch die Entscheidungen des MDK über Gebühr Rechnung getragen und damit im
Gleichklang den Patientenrechten nur unzureichend Beachtung geschenkt werden
könnte.
Taucht man nur ein wenig tiefer in diese Materie ein,
begegnet man einer Vielzahl von Personen, die immer neue Beispiele für ein
zumeist sehr restriktives Vorgehen des MDK vorbringen. Da der MDK für die
Krankenkassen ein sehr breites Aufgabenfeld bearbeitet, betreffen die Fälle auch
die unterschiedlichsten Lebensbereiche.
Dies reicht von kompletten Gesundschreibungen durch den
MDK (Erfahrungsbericht
einer Burnout-Patientin via Stephanie Dann), auch entgegen
dem ärztlichen Attest des behandelnden Hausarztes, welche erst nach Widerspruch
durch den Patienten wieder zurückgenommen wurden, über Festlegungen zum Grad der
Erwerbsfähigkeit (anhand der maximal zu leistenden Wochenarbeitsstunden, Verbot
bestimmter Betätigungen, zu vermeidender Umwelteinflüsse), die in den Gutachten
des MDK, im Gegensatz zu vorherigen ärztlichen Gutachten, plötzlich deutlich
höher ausfielen, dringend benötigten Behandlungen (BR,
Report München, 02.10.2012) und Operationen (WDR,
Markt, 18.03.2013), deren Kostenübernahme durch die
Krankenkassen der MDK verwarf, bis hin zu pflegenotwendigen Einstufungen. Selbst
bei der Unterbringung sterbenskranker Patienten im Hospiz spielt der MDK mit
seinen Entscheidungen immer wieder eine äußerst unrühmliche Rolle (ARD,
Fakt, 18.07.2011 via YouTube).
Nun sollen also verstärkt auch Sozialleistungsempfänger
den Begutachtungen genau dieses MDK unterzogen werden.
Krankheitsbild-irrelevante Bauchgefühle von Sachbearbeitern der Jobcenter setzen
den Mechanismus des MDK in Gang, dessen Entscheidungen immer wieder zu
grundlegenden Diskussionen über dessen Objektivität führen. Und in deren Folge
auch kranke Sozialleistungsempfänger als gesund deklariert würden. Woraufhin das
betreffende Gutachten des MDK als Beweis einer Leistungserschleichung mittels
vorgeschobener Krankheit verwendet würde, die wiederum zur Begründung einer
Sanktionierung durch Kürzung des Bedarfsregelsatzes diente. Es bedarf keiner
allzu großen Phantasie, um in diesem Konstrukt ein enormes Potential an sehr
willkürlichen Aktivitäten zu sehen.
Dass all dies nicht nur theoretisch bedeutsame Bedenken
sind, verdeutlicht
der folgend dargelegte Fall. Ein 48-jähriger Essener
Sozialleistungsempfänger ist zu 100 Prozent schwerbehindert und hatte darüber
hinaus in der Vergangenheit schon 2 Herzinfarkte erlitten. Dies hinderte die
Arbeitsvermittlerin des für ihn zuständigen Jobcenters jedoch nicht, ihm eine
Arbeit anzubieten. Selbstverständlich, wie immer in einem solchen Fall, mit
dem Hinweis auf Sanktionen im Falle einer Ablehnung seinerseits. Medizinische
Rückendeckung erhielt die Sachbearbeiterin durch den medizinischen Dienst des
Jobcenters, welcher dem Betroffenen nur wenige Wochen zuvor die Arbeitsfähigkeit
für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten bescheinigte. Unter dem Druck der
Sanktionsdrohung trat der betroffene Sozialleistungsempfänger, trotz Abraten
seines Hausarztes, die angebotene Hausmeistertätigkeit an. Allerdings nur
kurz. Denn bald darauf beendete ein dritter Herzinfarkt diese Arbeit. Was dieser
zu bedeuten hat, wissen selbst Nichtmediziner. Denn in den allermeisten Fällen
verläuft ein dritter Herzinfarkt tödlich. Selbstverständlich ist das nur ein
bedauerlicher Einzelfall. Einer unter Tausenden von anderen bedauerlichen
Einzelfällen.
Doch auch an anderen Stellen greift das
Jobcenter-Personal erheblich in medizinische Belange ein. Dem Autor liegt die
Kopie einer Einladung des Leipziger Jobcenters vor, in welcher schon vorbeugend
die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht als wichtiger Grund für
Ihr Nichterscheinen bezeichnet wird. Stattdessen wird eine Bescheinigung
gefordert, welche die Unmöglichkeit der Terminwahrnehmung aus medizinischen
Gründen belegt. Etwaige Kosten für diese Bescheinigung würden bis zu 5,36 Euro
übernommen werden. Diese Vorgabe ist praktisch eine Entwertung des ärztlichen
Attestes der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (umgangssprachlich:
Krankenschein).
Oberhalb der ärztlichen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung existiert jedoch kein allgemeingültiges
vorgefertigtes Dokument, das diesen Tatbestand der Nichtwahrnehmbarkeit eines
Termins bestätigen würde. Die gelegentlich in öffentlichen Diskussionen benannte
Bettlägerigkeitsbescheinigung ist ein Phantom. Allerdings gibt es die
Möglichkeit, beim behandelnden Arzt behelfsweise ein ärztliches Gutachten
anzufordern, das zum Zweck des medizinischen Nachweises für die Unmöglichkeit
einer Terminwahrnehmung ausgestellt würde.
Ein solches Gutachten zählt jedoch nicht zu den
Leistungen, welche von den Krankenkassen übernommen werden, da es über das Maß
einer ausreichenden, zweckmäßigen
und wirtschaftlichen Patientenversorgung hinausgeht. Es
gilt als sogenannte Individuelle Gesundheitsleistung (IGeL) und muss somit vom
Patienten selbst bezahlt werden. Nun wurde zwar in der Einladung des Jobcenters
eine Kostenübernahme in Höhe von bis zu 5,36 Euro zugesichert. Es ist jedoch
keineswegs zwingend, dass damit die Kosten dieses Behelfskonstrukts ärztliches
Gutachten auch wirklich gedeckt sind. Denn die Individuellen
Gesundheitsleistungen sind ärztliche Zusatzleistungen, deren Preise jeder Arzt
individuell festlegen kann. Theoretisch könnte ein Arzt ein solches Gutachten
kostenlos ausstellen, was allerdings höchstwahrscheinlich kaum der Fall sein
dürfte. Er könnte ebenso dafür 3, 5 oder auch 10 Euro in Rechnung
stellen.
Egal, wie man diesen Fall nun auch dreht und wendet. Es
ist mehr als dubios, ein offizielles ärztliches Attest in Form einer
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu entwerten, indem es für unzureichend erklärt
wird. Auch wenn diese Praxis offenbar nicht flächendeckend angewandt wird, so
gibt es doch eine Vielzahl zu kritisierender Aspekte an diesem Vorgehen. Sowohl
aus Sicht der Betroffenen wie auch seitens der Ärzteschaft. Nicht zuletzt bleibt
jedoch vor allem festzuhalten, dass auch dies ein weiterer, wenn auch kleiner,
Schritt der zunehmenden Entmündigung und Entrechtung von
Sozialleistungsempfängern ist. Denn gerade diese kleinen Schritte sind es, die
eine Gewöhnung der Öffentlichkeit, ja sogar der Betroffenen selbst, nach sich
ziehen. Und genau hierin liegt der Grund, den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung
umso intensiver auf diese Entwicklung zu lenken.
[«1] Lutz Hausstein (44),
Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen
2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen Was der Mensch braucht ermittelte er
einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a.
Ko-Autor des Buches Wir sind empört der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie
Verfasser des Buches Ein Plädoyer für Gerechtigkeit.