5
Jun
2013

Im Bildungswesen wird weiter privatisiert. Konzerne machen Schulen und Kindergärten zu Werbeträgern. [via Junge Welt] lesenswert!!!

»Der Staat verkauft die Kinder an die Industrie«

Im Bildungswesen wird weiter privatisiert.

Konzerne machen Schulen und
Kindergärten zu Werbeträgern.

Gespräch mit Anne Markwardt

Interview: Ben Mendelson
 
[via Junge Welt]
 
 
 
 
Anne Markwardt ist bei der Verbraucherorganisation foodwatch für das Thema
Kinderlebensmittel zuständig

Vor drei Wochen hat die Verbraucherorganisation foodwatch dem
»ungesunden Dickmacher« Capri-Sonne den »Goldenen Windbeutel« für die
»dreisteste Werbelüge 2013« verliehen, weil dieser massiv an Kinder vermarktet
wurde. Passiert das auch an Schulen?

Die Lebensmittelindustrie
ist auch an Schulen vertreten. Konzerne wie Nestlé, McDonald’s oder Ritter
stellen Unterrichtsmaterialien zur Verfügung und versuchen so, ihre Marken in
den Schulen zu positionieren und bestimmte Botschaften über Ernährung zu
vermitteln. Damit erhalten die Kinder oft ein falsches Bild. Außerdem
finanzieren Marken wie PomBär oder funny-frisch Preisverleihungen,
Sportveranstaltungen und Schulfeste. Auch Kindergärten werden zur Werbefläche,
sie erhalten z.B. Päckchen mit kostenlosen Produktproben zugeschickt.

Ist Werbung an Schulen überhaupt erlaubt?

Alle 16
Bundesländer haben unterschiedliche Schulgesetze. Außer in Berlin ist
kommerzielle Werbung an Schulen überall verboten. Erlaubt sind aber
Schulauftritte von Firmen und die Finanzierung schulischer Aktivitäten, wenn
dabei nicht »der pädagogische Nutzen« vernachlässigt wird. Dieser Nutzen ist
aber nicht definiert, die Auslegung liegt letztlich bei Schulleitern und
Lehrern. Die stehen dann vor der Frage, ob sie eine gesponserte Veranstaltung
machen oder gar keine. Skandalös ist daran, daß der Staat die Schulen in diese
Situation bringt, indem er solche Kernaufgaben an die Privatwirtschaft abgibt –
und damit die Kinder an die Industrie verkauft.

Gibt es Studien darüber, in welchem Maße an Schulen geworben
wird?

Was die Lebensmittelindustrie angeht, liegen uns keine
Langzeitstudien vor. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat allerdings
festgestellt, daß die Privatisierung des Bildungswesens in den letzten Jahren
deutlich zugenommen hat. Neben der Lebensmittelindustrie machen sich jetzt auch
Energieunternehmen oder die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierte
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft im Bildungswesen breit. Sie versuchen
beispielsweise, in den Politik- oder Sozialkunde-Unterricht
einzudringen.

Die Organisation Lobbycontrol hat den Einfluß von
Lobbyisten auf Schulen aufgedeckt: Quasi jede lobbyistische Gruppierung
versucht, Einfluß zu gewinnen. Die Gründung spezialisierter Werbeagenturen wie
der »Deutschen Schulmarketing Agentur« zeigt, wie weit die Entwicklung
vorangeschritten ist. Zu ihren Kunden zählen laut Lobbycontrol u.a. die AOK, die
Deutsche Bank und Nokia.

Ist diese Form von Werbung effektiv?

Absolut. Die Marken
werden in einem vertrauenswürdigen Umfeld präsentiert. Das Ziel der Industrie
ist, sich bei den Kindern bekanntzumachen. Das funktioniert an Schulen und
Kindergärten besonders gut, weil dort Erzieher und Lehrer sind, denen die Kinder
vertrauen und von denen man annimmt, daß sie nur das Beste für die
Heranwachsenden wollen.

Perfide daran ist, daß die Kinder dieser Werbung
überhaupt nicht ausweichen können, schließlich müssen sie zur Schule gehen und
beispielsweise mit den gesponserten Materialien arbeiten. Dieser Werbung kann
sich also kein Kind entziehen – und Eltern können ihre Kinder faktisch davor
nicht schützen

Was sollte die Politik gegen die Privatisierung an den Schulen
tun?

Die Werbung an Schulen und Kindergärten muß unterbunden
werden. Damit sind auch Veranstaltungen gemeint, die im Zusammenhang mit
Markennamen oder Logos stehen. Die Lebensmittelindustrie trägt mit ihrem auf
Kinder ausgerichteten Junkfood-Marketing eine Mitverantwortung für Übergewicht,
Fehlernährung und ernährungsbedingte Krankheiten bei jungen Menschen. Die
Lebensmittelindustrie ist nicht Teil der Lösung, sondern Kern des Problems.
Schulen und Kindergärten müssen finanziell so ausgestattet werden, daß sie
wieder werbefrei werden.



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