5
Jun
2013

Fit for Leadership - #Religiöse #Aspekte #neoliberaler #Propaganda [via arbeitsunrecht.de]

 

Zwangskollektivierung des privatisierten
Ich

Fit for Leadership – Religiöse Aspekte
neoliberaler Propaganda

Von arbeitslosen Ich-Aktionären und
selbstoptimierten Jüngern der Unternehmensphilosophie.

von Werner Rügemer,

ursprünglich erschienen in Ossietzky
10/2013

[via arbeitsunrecht.de]

http://arbeitsunrecht.de/?p=1716#more-1716

Jeder,
auch wenn er unten ist, sei seines Glückes Schmied, jeder könne vom
Tellerwäscher aufsteigen zum Millionär: Solche Klischees werden immer wieder
aufgewärmt, auch wenn ihre Verwirklichung noch so illusionär ist.

In bürokratisierter Form hieß das Klischee in Deutschland
vor einiger Zeit »Ich-AG«. AG bedeutet Aktiengesellschaft. Das erschien in
diesem Zusammenhang kurios, war aber ernst gemeint. Das Konstrukt war Teil der
2002 von der Bundesregierung aus SPD und Grünen unter Kanzler Schröder
beschlossenen Agenda 2010. Die Ich-AG gehörte zu den vier sogenannten
Hartz-Gesetzen, genauer zu »Hartz II«. Dieses Gesetz legitimiert, reguliert und
verfestigt seitdem »geringfügige Beschäftigungen« wie Mini- und Midi-Jobs. Mit
Ich-AG wurden selbständige Einzelunternehmer bezeichnet, ehemals Erwerbslose,
die für die Gründungsphase von den damals eingerichteten Jobcentern Zuschüsse
bekamen.

Doch das Konzept ging nicht auf. Den Arbeitslosen wurde
auch keine richtige Unternehmerperspektive eröffnet; sie sollten »kostengünstige
Dienstleistungen mit alltagspraktischen Fähigkeiten« erbringen, für die es
großen Bedarf gebe. Mit solchen Scheinselbständigen konnten die richtigen
Unternehmer die Sozialleistungen einsparen. Aus den Arbeitslosen wurden
geheimnisvollerweise keine Aktiengesellschaften. Die Ich-AG wurde von ihren
Erfindern aus dem Verkehr gezogen.

Dies heißt jedoch nicht, daß die Idee und die damit
verbundene Praxis verschwunden wären, im Gegenteil.

Das
unternehmerische Ich bleibt das Leit- und Heilsbild der gegenwärtigen Religion,
auch für diejenigen, die gar keine Unternehmer sind und sein können. Auch die
(noch) in Arbeit Befindlichen sollen sich als Unternehmer ihrer selbst, als
Selbst- und Ich-Unternehmer verstehen. Jeder soll als Unternehmer um seinen oder
auch um einen anderen Arbeitsplatz kämpfen.

Zusammenschlüsse von abhängig Beschäftigten wie
Gewerkschaften und Betriebsräte gelten als Störfaktoren. Sie stören den freien
Markt beziehungsweise die Marktwirtschaft, das »freie« und gerechte Aushandeln
der Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Beschäftigten sollen vielmehr einzeln und
frei vor ihren Arbeitgeber treten und den Arbeitsvertrag allein, ohne Beratung
und Unterstützung, aushandeln, wobei es im Grunde gar nichts zu verhandeln gibt:
Unterschreib oder stirb.

Wenn aber Tarifverträge (noch) nicht vermieden werden
können und der (noch) bestehende Betriebsrat mitreden will, dann nehmen sich die
Arbeitgeber, unterstützt von hochbezahlten Beratern, die einzelnen Arbeitnehmer
vor und schließen mit ihnen nach dem Tarifvertrag noch individuelle
»Zielvereinbarungen« ab und legen Leistungen, Kontrollen und Lohnbestandteile
fest, die nichts mit dem Tarifvertrag zu tun haben. Die Ich-Unternehmer dürfen
über ihre Entgelte und Arbeitsbedingungen nicht miteinander und in der
Öffentlichkeit sprechen.

Wollen
Lohnabhängige heutzutage eine kollektive Vertretung gründen, werden sie schon
mal von den richtigen Unternehmern gekündigt, und zwar auch dann, wenn die
Kündigung rechtswidrig ist – aber erst einmal ist der Störer aus dem Betrieb
entfernt. Wenn er vor dem Arbeitsgericht vier Monate später Recht bekommt, kann
man weitersehen: Abfindung, und weg ist er. Andere Betriebsratsaktivisten werden
korrumpiert, mit individuellem Aufstieg im Betrieb und erhöhtem Gehalt.

So wird das arbeitende Individuum in die individuelle
Privatheit gestoßen, privatisiert. Eine neue Wissenschaftsbranche, Human
Relations oder Human Resources genannt, liefert dafür ein breites Spektrum an
Leistungsmessungen, Leistungsvergleichen, Methoden der Selbststeuerung und
Selbstoptimierung. Das ist verbunden mit renditedienlicher Willkür und
mafiotischen Loyalitätskriterien der Vorgesetzten gegenüber den isolierten
Ichen. Da ist es kein weiter Weg zum Arbeiterstrich in bestimmten Straßen
unserer Städte, wo Arbeiter aller reichen und armen Länder, einschließlich
unseres eigenen, sich täglich flehend prostituieren, um für einen Stundenlohn
von zwei Euro gnädigerweise diesmal in den Bus des Sklavenhändlers einsteigen zu
dürfen, während andere konkurrierende Iche einzeln und frei zurückgelassen
werden.

Ebenso ergeht es den Arbeitslosen unter dem »Hartz
IV«-Regime. Sie müssen unter der demagogischen Bezeichnung »Kunde« einzeln und
frei um die Gewährung ihrer jämmerlichen Hungerrationen betteln. Sie müssen vor
den Angestellten der Jobcenter finanziell und familiär ihre Hosen und Röcke und
Unterhosen herunterlassen und umfangreiche Zielvereinbarungen unterschreiben.
Kontrolleure durchsuchen die Privatheit der Arbeitsalmosenempfänger und stöbern
in Konten, Betten und Zahnputzgläsern ihrer Bedarfsgemeinschaft.

Wenn die Arbeitslosen eine Begleitung ins Jobcenter
mitbringen, wird das als Belästigung oder Unverschämtheit angesehen. Werden
solche Begleitungen öffentlich angekündigt, verschicken die Leiter der Jobcenter
Anweisungen an die Angestellten, sich bitte freundlich und korrekt zu verhalten;
das Image des Jobcenters sei sonst in Gefahr. Denn einfache menschliche
Begleitung, gar sachliche Beratung über die eigenen Rechte wird als Gefahr für
die herrschende Ordnung, für das »Hartz IV«- und Rendite-Regime angesehen. Und
die Jobcenter-Angestellten müssen leugnen, daß es solche Anweisungen gibt.

Den
kollektiven Zusammenschluß, den die Privateigentümer den abhängig Beschäftigten
verwehren, praktizieren sie selbst in hohem Maße. Sie überziehen das Land
flächendeckend mit einer aufgeblähten Bürokratie aus Unternehmerverbänden. Die
Industrie- und Handelskammern verordnen sogar mit Hilfe des Staates die
Zwangsmitgliedschaft aller noch so kleinen Unternehmen.

Die richtigen Unternehmer zwingen den vereinzelten
Lohnabhängigen eine neue Kollektivität auf. Sie sollen sich der Corporate
Identity unterordnen. Plötzlich sollen alle privatisierten Iche eine große,
allumfassende Gemeinschaft bilden und für ein angebliches gemeinsames Ziel
arbeiten. »Fit for Leadership« etwa heißt es bei Daimler. Oder auch »Das WIR
entscheidet«, wie das Motto der Leiharbeiterfirma mit dem dazu passenden Namen
»Propartner« lautet. Auch die Volksgemeinschaft ist nicht weit, wenn es heißt
»Deutschland geht es gut«.

Doch die zum privaten Ich-Unternehmer befreiten
Beschäftigten und Arbeitslosen sind in Wirklichkeit unterworfene, schweigende
Bettler. Ihnen fehlt die wesentliche Eigenschaft des kapitalistischen
Unternehmers: die Verfügung über den Gewinn.

In »unseren« Unternehmen und Jobcentern herrschen die Angst
und das Schweigen der eigentumslosen Ich-Unternehmer. Wenn es jemals eine
demagogisch begründete Zwangskollektivierung großen Stils gab, dann hier und
jetzt im real existierenden Kapitalismus.

Wie marode, korrupt, lügnerisch und gewaltförmig muß eine
gesellschaftliche Ordnung sein, um zur eigenen verzweifelten Legitimation selbst
den Ärmsten und Schwächsten den Status eines Unternehmers aufschwatzen und
aufzwingen zu wollen?!

Laßt uns mal darüber sprechen, gemeinsam. Was meint
Ihr?




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