Die Propaganda vom Fachkräftemangel vertiefend - vertiefend zum Montagsbusiness
Fachkräftemangel
von Lars Niggemeyer
Der Fachkräftemangel wird in den nächsten Jahren zum
Schlüsselproblem für den deutschen Arbeitsmarkt und nicht die Arbeitslosigkeit,
erklärt Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, und Arbeitgeber-Präsident
Dieter Hundt fordert unentwegt wirksame Maßnahmen dagegen.
Das alles geschieht, obwohl ab dem 1. Mai die
Freizügigkeit in arbeitsrechtlicher Hinsicht auch für Arbeitnehmer aus den acht
osteuropäischen Staaten gilt, die 2004 der Europäischen Union beigetreten sind.
Dann dürfen Bürger aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei,
Slowenien, Tschechien und Ungarn in Deutschland uneingeschränkt arbeiten. Ist
die Lage auf dem Arbeitsmarkt also tatsächlich so dramatisch, wie Brüderle und
Hundt behaupten? Keineswegs. Die Debatte zeigt vielmehr, wie interessengeleitet
die Diagnose eines angeblichen Fachkräftemangels ist.
Zunächst einmal wird hier die Wirklichkeit radikal
verkehrt. Denn die Klage über einen Fachkräftemangel lenkt davon ab, dass die
allgemeine Lage am Arbeitsmarkt weiterhin ausgesprochen schlecht ist. Nach wie
vor herrscht Massenarbeitslosigkeit, 2010 waren offiziell 3,2 Millionen Menschen
von Arbeitslosigkeit betroffen. Zu den registrierten Arbeitslosen kommen noch
die Menschen hinzu, die sich wegen Aussichtslosigkeit nicht mehr bei den
Arbeitsagenturen melden oder nicht mitgezählt werden, weil sie sich in Maßnahmen
der Agentur befinden. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist also viel höher. Sie
lag 2009 bei rund 5,37 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen. Hinzu kommen weitere
2,04 Millionen unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte, die eine Vollzeitstelle
suchen. Insgesamt sind damit rund 7,4 Millionen Personen in Deutschland von
Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung betroffen.[1]
Seit 2000 ist außerdem die atypische Beschäftigung
massiv gewachsen: Die Zahl der Leiharbeiter hat sich mehr als verdoppelt,
Befristung und Mini-Jobs haben stark zugenommen. Zudem ist der Niedriglohnsektor
erheblich angewachsen: 2008 arbeiteten 22 Prozent der Beschäftigten, 6,5
Millionen Menschen, zu Niedriglöhnen zwei Millionen mehr als 1995. Die große
Mehrheit ist dabei gut qualifiziert: 79,5 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten
haben eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen.[2]
Besonders schwierig gestaltet sich die Arbeitsmarktlage
für die Angehörigen der Jahrgänge, die ins Arbeitsleben einsteigen bzw. aus
diesem ausscheiden: Generell haben es Arbeitslose über 50 Jahre aufgrund ihrer
angeblich geminderten Leistungsfähigkeit sehr schwer, überhaupt wieder
eingestellt zu werden. Ab dem Alter von 55 nimmt die Erwerbsquote mit jedem
Altersjahr rapide ab. Nur jeder zehnte 64jährige geht noch einer
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach. Spiegelbildlich verhält sich
die Lage beim Einstieg in Arbeitsleben: Hier herrscht ein massiver
Ausbildungsplatzmangel. Seit 15 Jahren liegt das Angebot an Ausbildungsplätzen
regelmäßig unter dem Bedarf. Die Vereinbarungen zwischen Wirtschaft und Politik
zur Behebung des Mangels blieben wirkungslos. Der Anteil der 20- bis 29jährigen
ohne Berufsausbildung ist in den letzten Jahren auf nunmehr 17 Prozent gestiegen
ein enormes Potential zur Ausbildung von zukünftigen Fachkräften, das von den
Unternehmen jedoch nicht genutzt wird durchaus mit strategischem
Hintersinn.
Über- oder Unterangebot der Ware Arbeitskraft?
Denn der Arbeitsmarkt unterliegt, wie jeder Markt, dem
Gesetz von Angebot und Nachfrage. Bei vorhandenem Überangebot an Arbeitskräften
drohen deshalb Lohnsenkungen. Die Existenz von Gewerkschaften und kollektiven
Tarifverträgen ermöglicht es allerdings, auch in Zeiten von
Massenarbeitslosigkeit Lohnsenkungen zu verhindern. Allerdings wird es je
länger die Situation andauert immer schwerer, Lohnerhöhungen durchzusetzen,
die sich am Produktivitätsfortschritt orientieren und damit eine Teilhabe der
Arbeitnehmer am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum
gewährleisten.
1980 war der Höhepunkt der Durchsetzungsmacht der
bundesdeutschen Gewerkschaften. In diesem Jahr lag der Anteil der
Arbeitnehmereinkommen am gesamten Volkseinkommen bei 75,2 Prozent; im ersten
Halbjahr 2010 betrug er nur noch 65,5 Prozent.[3] Mit der
Lohnquote von 1980 wären den Arbeitnehmern im letzten Jahr rund 180 Mrd. Euro
mehr zugeflossen. Die Unternehmen haben von der Massenarbeitslosigkeit also
massiv profitiert: Sie können aus einer Vielzahl von Arbeitskräften zu günstigen
Löhnen auswählen und auf diese Weise ihren Profit auf Kosten der Beschäftigten
erhöhen.
Ganz anders stellt sich die Lage dar, wenn ein
Unterangebot an Arbeitskräften vorherrscht. Dann können die Arbeitnehmer
zwischen verschiedenen Arbeitsangeboten auswählen und auch höhere Löhne und
bessere Arbeitsbedingungen durchsetzten.[4]
Aktuell befinden wir uns in einer Situation, in der
gesamtwirtschaftlich von einem Arbeitskräftemangel keine Rede sein kann: Das
Verhältnis zwischen gemeldeten offenen Stellen und registrierten Arbeitslosen
liegt bei 1 zu 8. Es herrscht also massiver Arbeits- und nicht
Arbeitskräftemangel. Anders waren die Verhältnisse in der
Vollbeschäftigungsperiode von 1960 bis 1973: Die Arbeitslosigkeit lag, mit
Ausnahme der Krise 1968/69, jahresdurchschnittlich bei unter 300000 Personen.
Gleichzeitig waren rund doppelt so viele offene Stellen gemeldet. Arbeitskraft
war also knapp. Bemerkenswert ist, dass der damalige Arbeitskräftemangel mit
einem durchschnittlichen realen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von rund vier
Prozent pro Jahr einherging. Arbeitskräftemangel ist also durchaus mit hohen
Wachstumsraten vereinbar und kein gesamtgesellschaftliches Problem. Im
Gegenteil: Aus Sicht der Lohnabhängigen ist Arbeitskräftemangel sogar ein
wünschenswerter Zustand.
Eine Einschränkung gibt es allerdings: Es ist möglich,
dass trotz Massenarbeitslosigkeit in bestimmten Berufen weniger Bewerber als
offene Stellen vorhanden sind; das Angebot an Arbeitskräften ist nicht identisch
mit dem Angebot gelernter Fachkräfte in bestimmten Berufen. Genaue Aussagen
hierüber ermöglicht nur eine detaillierte Untersuchung der Arbeitsmarktlage für
einzelne Berufsgruppen.
Karl Brenke vom Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) hat kürzlich eine solche Untersuchung für die
naturwissenschaftlich-technischen und industriellen Berufe unter dem Titel:
Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht veröffentlicht.[5] Hierbei
handelt es sich um eine durch den Präsidenten des DIW, Klaus Zimmermann,
zensierte Variante des ursprünglichen Artikels mit dem Titel:
Fachkräftemangel in Deutschland: eine Fata Morgana. Der Grund dieses
Eingriffs: Zimmermann selbst tritt massiv für Arbeitszeitverlängerung
(45-Stunden-Woche) und eine jährliche Zuwanderung von 500000 Personen ein und
hat dies in der Vergangenheit immer wieder mit einem angeblichen Mangel an
Fachkräften begründet.[6] Brenke
weist nun (auch in der überarbeiteten Version) nach, dass hiervon keine Rede
sein kann: Bei fast allen Fachkräften ist die Zahl der Arbeitslosen höher als
die Zahl der offenen Stellen. Lediglich für Vulkaniseure, Elektroinstallateure
und Ärzte stellt sich die Lage anders dar. In den meisten Berufen liegt die Zahl
der offenen Stellen unter dem Vorkrisenniveau; gleichzeitig sind mehr Fachkräfte
arbeitslos als vor zwei Jahren. In den Ingenieursberufen rechnet Brenke in den
nächsten Jahren sogar mit einer Fachkräfteschwemme, da es in den Fächern
Maschinenbau und Verfahrenstechnik aktuell genauso viele Studenten wie
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt.
Die Folgen des demographischen Wandels
Gegenwärtig verlassen zudem mehr Hochschulabsolventen
Deutschland, als aus anderen Ländern einwandern. Das heißt: Der Arbeitsmarkt ist
für viele deutsche Hochschulabsolventen so schlecht, dass sie auswandern, um
anderswo Arbeit zu finden. Insofern sprechen alle verfügbaren ökonomischen
Indikatoren gegen einen allgemeinen Fachkräftemangel mit Ausnahme ganz weniger
Berufe.
In den kommenden Jahren wird die Bevölkerung der
Bundesrepublik erheblich altern. Dies betrifft auch das Potential der
verfügbaren Erwerbspersonen, da viele das Rentenalter erreichen und gleichzeitig
weniger Menschen ins Erwerbsleben eintreten werden. Das Institut für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) prognostiziert daher in einer aktuellen
Studie einen Rückgang des Erwerbspersonenpotentials um 3,6 Millionen Menschen
bis 2025.[7] Die
Nachfrage nach Arbeit nimmt dabei laut Modellrechnung des IAB sogar leicht zu.
Diese Annahme widerspricht allerdings der Tatsache, dass seit 1960 in
Deutschland konjunkturzyklusübergreifend die Produktivität schneller als die
Wirtschaftsleistung wächst. In der Folge sinkt bisher das insgesamt vorhandene
Arbeitsvolumen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Aber selbst unter den Bedingungen
einer Umkehr dieses Trends geht das IAB von rund 1,5 Millionen Arbeitslosen im
Jahr 2025 aus ohne Berücksichtigung unfreiwilliger Teilzeitbeschäftigung.
Ginge man von einer rückläufigen Nachfrage nach Arbeitskräften aus, läge die
Zahl der Arbeitslosen noch deutlich höher.
Von einem Mangel an Arbeitskräften kann in diesem
Szenario also trotz des demographischen Wandels auch 2025 keine Rede sein.
Denkbar ist zwar, dass langfristig Fachkräfteengpässe aufgrund nicht
passgerechter Qualifikationen auftreten werden. Aber hier können die Unternehmen
bereits heute durch die betriebliche Ausbildung und duale Studiengänge
gegensteuern. Sie müssen nur die Zahl der angebotenen Plätze entsprechend
erhöhen. Im Übrigen ist es Aufgabe der Bildungspolitik, dafür zu sorgen, dass
alle Kinder und Jugendlichen eine umfassende frühkindliche Förderung und
schulische Bildung erhalten, die allen eine Entfaltung ihrer Potentiale
ermöglicht.
Die Diskussion über den angeblichen Fachkräftemangel
ist also im Wesentlichen eine Phantomdebatte. Sie lenkt von den wirklichen
Problemen der andauernden Massenarbeitslosigkeit, zunehmenden prekären
Beschäftigung und wachsenden sozialen Ungleichheit ab. Dabei liegen die
Interessen der Arbeitgeber offen auf dem Tisch: Sie wollen auch in Zukunft auf
ein Überangebot an Arbeitskräften zurückgreifen können. Ihre Forderungen nach
der Verlängerung von Lebens- und Wochenarbeitszeiten sowie einer massiven
Ausweitung der Zuwanderung zielen darauf ab, das für sie sehr günstige
Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt
beizubehalten.
Dem gegenüber stehen die Interessen der Beschäftigten.
Sie profitieren von einer Verknappung von Arbeitskraft bzw. von einer massiven
Erhöhung der Nachfrage nach Arbeitskräften. Aus ihrer Sicht sollten deshalb ganz
andere Themen im Mittelpunkt der Diskussion über die Zukunft von Arbeit und
Gesellschaft stehen, nämlich die Umverteilung der Arbeit durch
Arbeitszeitverkürzung und der Ausbau der Beschäftigung im öffentlichen
Dienstleistungssektor, bei Gesundheit, Pflege, Bildung und Erziehung.[8] Dann stünde
auch nicht länger die Verfestigung der Arbeitslosigkeit auf der Tagesordnung,
sondern endlich deren Überwindung.
[1] Vgl. AG
Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2010, Tabellen A2 und A4. Die
Gesamtsumme setzt sich so zusammen: registrierte Arbeitslose (BA) + verdeckte
Arbeitslose (Sachverständigenrat) + stille Reserve (IAB).
[2] IAQ-Report
2010-06, Niedriglohnbeschäftigung 2008.
[3]
WSI-Verteilungsbericht 2010, in: WSI-Mitteilungen, 12/2010, S.
637.
[4] Ursula
Engelen-Kefer u.a., Beschäftigungspolitik, Köln 31999, S.
29f.
[5] Vgl.
DIW-Wochenbericht, 46/2010, S. 2-16.
[6] Vgl. Yasmin
El-Sharif, Forscherposse beim DIW. Was nicht passt, wird passend gemacht, in:
Spiegel Online, 18.11.2010.
[7]
IAB-Kurzbericht, 12/2010. Genaue Aussagen über den Arbeitsmarkt in 15 Jahren
kann allerdings keine Prognose liefern, da hierbei immer bestimmte Annahmen
zugrunde gelegt werden müssen, deren Eintreffen ungewiss ist (wie
etwa
Ausmaß der Zuwanderung, Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, allgemeine
wirtschaftliche Entwicklung).
[8] Vgl. Heinz-J.
Bontrup, Lars Niggemeyer und Jörg Melz, Arbeit fairteilen, Hamburg
2007.