21
Okt
2013

geht es hier um »Nachhaltigkeit«, wo doch die Überproduktion von Lebensmitteln die Geschäftsgrundlage der Tafeln ist?

Lebensmittelueberproduktion-Lebensmittelvernichtung-Welthunger-FAO-Lebensmittelverschwendung-Hungerkatastrophen
 
ABGESPEIST -
ÜBERFLÜSSIG GEMACHTE UND GEMACHTES AN EINER TAFEL
 
Geschrieben von: Günther Salz -
http://www.kritisches-netzwerk.de
 
[via Linke
Zeitung]
 
 
 

In dem
Maße, wie Armut und Ungleichheit zugenommen haben, ist auch die Tafelbewegung
als »Brücke zwischen Überfluss und Mangel« gewachsen. Aus der ersten Tafel für
Obdachlose in Berlin 1993 ist eine halbprofessionelle Tafelbewegung für arme
Jederfrauen und -männer geworden mit mehr als 2 000 Ausgabestellen und 1,5
Millionen NutzerInnen.

Eine
der größten öffentlich-privaten Partnerschaften nach dem 2. Weltkrieg, die so
ganz in den verschlankten, neoliberalen Sozialstaat passt. Ein Ansatz, der den
wegen ihrer Ausbeutungs- und Ausspitzelungs-Methoden in die Kritik geratenen
Lebensmittel-Discountern wie gerufen kam. Metro-Chef Caparros z.B. freute sich
öffentlich, dass er nun den armen Menschen als »Lebens-Mittler« (!) helfen und
ihnen eine Perspektive geben könne.


Aber auch viele katholische und evangelische Pfarrer und
manche Caritas- und Diakonie-Vertreter sind ganz in ihrem Element, wenn sie
Tafeln einweihen oder von christlicher Nächstenliebe, ja bisweilen gar von einer
Vorform des Reiches Gottes fabulieren können.

Da es nach der
Lebensmittel-Branche auch der Politik aufgefallen ist, dass immer mehr
Lebensmittel entsorgt oder einfach weggeworfen
werden, kam ein neues Motiv, das der »Nachhaltigkeit« ins Spiel. So wurde der
Bundesverband der Tafeln 2011 mit dem Nachhaltigkeitspreis »Eco-Care« der Lebensmittel-Wirtschaft
ausgezeichnet. Schließlich sorge er dafür, dass große Mengen von Esswaren vor
der Vernichtung bewahrt und rationell an die Tafeln verteilt würden. Auf diese
Weise macht sich der Bundesverband, der nach eigenen Angaben gegen Armut kämpft,
sowohl armuts- als auch ökopolitisch unverzichtbar. Kann man angesichts dieser
Entwicklungen noch annehmen, dass sich die Tafeln und der Bundesverband
»überflüssig« machen wollen? Und geht es hier um »Nachhaltigkeit«, wo doch die
Überproduktion von Lebensmitteln die Geschäftsgrundlage der Tafeln
ist?

Bei dieser
Fragestellung sind wir schon mitten in der kapitalistischen Ökonomie, die den
Bezugsrahmen von Armut und Überfluss ebenso wie für die Tafelbewegung darstellt.
Dieser muss geklärt werden, wenn wir einigermaßen zureichend über unser Thema
sprechen wollen. Werfen wir also einen Blick auf die Unterwelt der
Warenwelt.


Tafeln, Überproduktion und
Armut sind Erscheinungen der Warenproduktion, einer verrückten Reichtumsform, in
der Güter nicht eigentlich zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert
werden, sondern zum Zweck der Geldvermehrung beziehungsweise zur
Kapitalakkumulation. Lebensmittel werden im Kapitalismus aus Profitgründen
hergestellt und vertrieben und nicht, weil Menschen essen und trinken wollen.
Mittels permanenter Überproduktion von Lebensmitteln werden
Ansprüche auf die vorhandene Massenkaufkraft geltend gemacht. In der Konkurrenz
spekulieren die Unternehmen darauf, mit aggressiver Werbung, Preiskampf und
Marktverdrängung trotz allgemeiner Überproduktion immer noch einen größeren
Mehrwert für sich einfahren zu können. In der Logik dieser Strategien liegt es
auch, die Fristen für das Mindesthaltbarkeitsdatum zu verkürzen, um den
Warenumschlag und damit die Profite zu erhöhen. Der hierdurch zusätzlich
anfallende Müll und seine Entsorgungskosten werden »eingepreist« und auf alle
Waren umgelegt. Am Ende hat man schließlich die Tafeln.


In diesem System ist es auch rational, nicht nur
überflüssige Waren zu produzieren, sondern auch überflüssige Arbeitskraft. Denn
in der Konkurrenz setzt sich in der Regel der Billigste durch. Der Billigste ist
der mit der höchsten Arbeitsproduktivität, welcher mit möglichst viel
Maschineneinsatz und möglichst wenig Menschenkraft produziert und dabei
möglichst geringe Löhne zahlt – oder der, dem es gelingt, Menschen noch billiger
als Maschinen einzusetzen. So verschafft man sich Wettbewerbsvorteile.
Gesellschaftlich entsteht so aber Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeit und Armut,
die noch durch staatliche Deregulierung der Arbeitsverhältnisse befördert
wird.


Auf diese Weise kommen
überproduzierte, auf dem Markt auch nicht mehr durch absolute Niedrigpreise
absetzbare Warenberge, die ihren Tauschwert verloren haben, mit überflüssig und
arm gemachten Menschen, die ihre Würde verloren haben, an den Tafeln zusammen.
Diese Erscheinung für einen sozialpolitischen Fortschritt auszugeben, wie es
Ministerin von der Leyen tat, ist für mich schlichtweg pervers. Hierzu ein Zitat
der ehemaligen Schirmherrin der Tafeln: »Ich bin davon überzeugt, dass unser
Land menschlicher, ideenreicher und sogar effektiver (!) wird, wenn sich
Zivilgesellschaft und auch die Unternehmen engagieren«.


Ich sehe das ganz anders. Die Tafeln sind für mich nicht
bloß ein Ergebnis sozialstaatlichen Sittenverfalls, sondern ein Zeichen des
Unheils, ein Menetekel. Als gesellschaftliche Erscheinung sind sie Ausdruck der
Selbst- und Weltzerstörungspotenziale des Kapitals, weil genau die zwanghaft
gesteigerte Arbeitsproduktivität mit ihrem erhöhten Ausstoß an Produkten die
Grundlagen des Lebens, die menschliche Arbeit und die Natur, immer deutlicher
zerstört. Ein Viertel des weltweiten Wasservorkommens wird für den Anbau von
Nahrungsmitteln verbraucht, die später auf dem Müll landen!

 


Lebensmittelproduktion und Anteil weggeworfener
Lebensmittel. Bild: 
FAO Bericht

Die Tafeln sind
deshalb auch Ausläufer des kapitalistischen Wachstumszwangs und Teil der
ökologischen Krise statt ein Instrument der Nachhaltigkeit. Das, was wir für
normal ansehen, der Markt und die Warenproduktion, entpuppt sich bei näherem
Hinsehen als destruktives und widersprüchliches System, das auf eine
fundamentale Krise zutreibt. In diesem System werden die abhängig Beschäftigten
zu gesteigerter Leistung und noch mehr Konsum angetrieben und arme Leute mit
Warenmüll abgespeist und sozial begraben.


All diese Systemursachen und -erscheinungen werden
gewöhnlich sowohl in der öffentlichen Debatte, in der Fachdiskussion und ganz
besonders in der Praxis der Tafeln ausgeblendet. Man begnügt sich mit
pragmatischen Maßnahmen und gibt den Armen, was vom Tische der Reichen fällt. So
wird Gerechtigkeit durch bloße Barmherzigkeit und der Sozialstaat durch private
Wohltätigkeit ersetzt; so werden hilfsbereite Menschen von Politik und
Lebensmittel-Konzernen für fremde Zwecke instrumentalisiert; so werden arme
Leute aus dem normalen Leben in eine Almosenökonomie abgedrängt und hierdurch
strukturell entwürdigt; so werden Geldleistungen durch Sachleistungen ersetzt;
so wird Armen das notwendige Existenzminimum mit heimlichem Blick auf die Tafeln
verweigert und dadurch auch die Forderung nach anständigen Mindestlöhnen
unterhöhlt; so werden die Profiteure des Tafelsystems – insbesondere
Lebensmittel-Handel und Politik – als Wohltäter verkleidet und arme Menschen
dazu genötigt, den kapitalistischen Warenmüll zu konsumieren – wobei dies dann
auch noch zur Nachhaltigkeitsstrategie verklärt wird.


Aus meiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer der
Liga der Wohlfahrtsverbände in Rheinland-Pfalz weiß ich, dass auch viele
Tafelträger und Tafelhelfer manchmal unzufrieden sind mit dem, was sie tun. Sie
sagen sich: Eigentlich dürfte es in einer so reichen Gesellschaft wie der
unsrigen keine Armut und keine Tafeln geben. Bei einer Liga-Tagung vor drei
Jahren bekundeten mehr als die Hälfte der TafelvertreterInnen, dass sie sich
perspektivisch überflüssig machen wollten. Aber wie kann das gehen – zumal der
Systemzusammenhang ja mit bedacht werden muss?


Zumindest müsste man drei Ebenen
berücksichtigen:


1.
Sozialpädagogisch-pragmatische Ebene


Gibt es Ansätze, die die strukturell vorgegebene
Stigmatisierung und Entwürdigung der Tafel»kunden« reduzieren und ihre
Gleichberechtigung und Selbstorganisationsfähigkeit fördern? Könnten die
Betroffenen die Sache selbst in die Hand nehmen? (Zum Beispiel mit Hilfe eines
»second hand-Handels für Lebensmittel« oder mit »Volxküchen«, in denen sonst
Weggeworfenes verbraucht und gemeinsam gegessen wird.) Könnte man dem
Lebensmittel-Handel mehr Selbstverantwortung zuweisen, indem er abgelaufene Ware
generell billiger verkauft oder verschenkt? Und vor allem: Wie kann die
Politisierung der Tafelträger und ihrer Helfer, aber auch der Tafelnutzer
gelingen?


2. Verteilungspolitische
Ebene


Wie kann die
notwendige Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze, der Grundsicherungsbeträge für
Ältere, die Angleichung der Leistungen für AsylbewerberInnen und Flüchtlinge und
die Einführung auskömmlicher gesetzlicher Mindestlöhne durchgesetzt werden? Und
wie eine gerechte Steuerpolitik?


3.
System-Ebene


Wie ich
versucht habe darzustellen, ist es schwer, in verkehrten Verhältnissen das
Richtige zu tun. Selbst mit einer »Normalisierung« in Form erhöhter Regelsätze
und Löhne wären das Systemproblem der konkurrenz- und profitgesteuerten
Überproduktion mit seiner Selbstzerstörungstendenz und die ausbeuterische,
abhängige Lohnarbeit nicht beseitigt. Deshalb müssen wir auch eine grundlegende
gesellschaftliche Veränderung, einen Formwechsel von Produktion und Verteilung
ins Auge fassen. Wir in der KAB haben dafür den Begriff der
»Tätigkeitsgesellschaft« entwickelt, Karl Marx sprach von einem »Verein freier
Menschen«. Wir KABler haben aber auch die biblische Zusage aus dem 5. Buch Mose,
wonach es in einer gerechten und freien Gesellschaft keine Armut geben muss.
Diese Zusage nehmen wir ernst.

 


Quellen, Infos und
Kontakt:


[1] 
Günther Salz war bis vor kurzem Diözesanvorsitzender im
KAB-Diözesanverband Trier und hat von 2008 bis 2012 das Projekt
»Lebensmittel-Tafeln« im Rahmen der sog. »Sozialfuchs-Kampagne« geleitet, mit
der »unwürdige gesellschaftliche Zustände« aufgedeckt und öffentlich gemacht,
aber auch »Positives« aufgespürt und eigene Aktivitäten entwickelt werden
sollten.


Weitere Informationen unter: www.tafelforum.de und
www.kab-trier.de


Artikel von Günther Salz,
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und
Gewerkschaftsarbeit, 2012/12 (zum Artikel) und www.labournet.de/express

Herausgeber
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