6
Okt
2015

Umso mehr sich Armut und Unsicherheit ausbreiten, umso mehr neigen die Menschen zu Entsolidarisierung und Ausgrenzung

 

 

Der Ökonom als Menschenfeind?


 
[via Nachdenkseiten]
 
 
 

Über gesellschaftliche
Verrohung und die etablierte ökonomische Theorie
Ein Interview mit dem
Volkswirt und Wirtschaftsethiker Sebastian Thieme über Fragen nach der
Entsolidarisierung der Gesellschaft etwa durch die Hartz-Reformen, nach dem
Menschenbild hinter den vorherrschenden ökonomischen Lehren, nach der
Ökonomisierung der Gesellschaft und der ethischen Verantwortung von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Das Interview für die NachDenkSeiten
führte

Jens
Wernicke.


Herr Thieme,
Sie arbeiten seit Längerem über das Thema der sogenannten „
rohen
Bürgerlichkeit
“. Um was genau handelt es sich bei diesem Phänomen – und in
welchem Zusammenhang steht es mit Prekarisierung, Hartz IV etc.?

Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer hat den Begriff „rohe
Bürgerlichkeit“ verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass sich unsere
Gesellschaft zunehmend entsolidarisiert. Vor allem die „Eliten“ meinen, sie
würden bereits viel zu viel für die Gesellschaft tun, der Staat behandle sie
ungerechtund dieSchwachen sollten sich gefälligst selber helfen.

Zur Wahrheit gehört aber ebenso, dass sich auch die unteren
Gesellschaftsgruppen untereinander mehr und mehr entsolidarisieren. Die von
Ihnen erwähnten Hartz-Reformen lassen sich dabei als Instrument einer
institutionalisierten Entsolidarisierung bezeichnen. Der Staat bzw. die
Gesellschaft konfrontieren die Bedürftigenständig mit dem Vorwurf des
Sozialmissbrauchs und stellen die Solidarität unter den umfassenden Vorbehalt
einer „Unbedenklichkeitsprüfung“. Dazu gehört die obligatorische Prüfung der
Bedürftigkeit, die von vielen Betroffenen in ihrer Praxis bereits als
entwürdigend empfunden wird. Aber auch die Vorladungen in Jobcenter, die
Residenz-, Ab- und Rückmeldepflichten sowie die sogenannten
Einstellungsvereinbarungen zählen dazu. Diese Auflagen selbst sind bereits
entsolidarisierend, d. h. die Solidarität steht unter dem Vorbehalt der
Einhaltung dieser Auflagen. In Ihnen zeigt sich das eben beschriebene Misstrauen
gegenüber den Bedürftigen. Letztlich sollen diese Maßnahmen allesamt
disziplinierend bzw. erzieherisch wirken. Das wiederum geht offenbar mit einer
Haltung einher, wonach „Bedürftige“ oft gar keine Hilfe benötigen, sich selbst
helfen könnten – ihnen damit aber ebenso oft unterstellt wird, sich lieber
helfen lassen zu wollen, weil das bequemer ist – und schlussendlich gar nicht so
viel Solidarität nötig wäre.

Aber auch der Umstand, dass derartige „Reformen“ überhaupt möglich waren,
zeugt bereits von einem Klima der Entsolidarisierung. Hinzu tritt, dass die
Notwendigkeit solcher „Reformen“ mit negativen Menschenbildern begründet wurde
und bis heute noch wird. Denken Sie nur an solche Aussprüche wie „Nur wer arbeitet, soll auch
essen
“. Oder an Ex-Kanzler Schröder, der damals im Bundestag meinte, dass
in Deutschland kein Platz für Faulheit sei
. Sein damaliger Superminister
Clemens malte dann überdeutlich das Gespenst des Sozialmissbrauchs an die Wand
und setzte dem Ganzen noch die Krone auf, indem er die Bezieher von
Sozialtransfers mit „Parasiten“ verglich. Wortwörtlich hieß es auf Seite 10 des
damaligen Reports des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit „Vorrang für
die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke‘ und Selbstbedienung im
Sozialstaat“:

„Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur
Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren
Wirten – leben‘, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten‘. Natürlich ist es
völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen.
Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom
Willen des Einzelnen gesteuert.“

Vorrang
für die Anständigen – Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im
Sozialstaat [PDF - 183 KB]

Denken Sie auch an das überaus populäre Bild von Beziehern von
Sozialtransfers, die – im
Jargon von Oswald Metzger
– das Geld lieber in Alkoholika und
Kohlehydrateinvestieren würden als bspw. für die Bildung ihrer Kinder. Solche
zynischen Sprüche charakterisieren den Wirkungsbereich der „rohen
Bürgerlichkeit“.Letztlich geht es um Stigmatisierung, Abwertung und
Menschenfeindlichkeit – und zwar, zumindest in diesen Beispielen, „von oben
herab“, d. h. dass gut situierte Personen der Öffentlichkeit stigmatisierten und
abwerteten.

Die prekären Lebensbedingungen im Niedriglohnbereich und in der Zeitarbeit
spielen jedoch ebenso eine Rolle. Nur werden dort die Bedürftigen eben
gegeneinander ausgespielt. Niedriglöhner werfen dann z. B. den Beziehern des
Arbeitslosengeldes II Faulheit vor usw. usf. Innerhalb von Unternehmen wirkt
zudem zunehmend die Spaltung zwischen Stammbelegschaft und Leiharbeitern: Die
„Privilegien“ der unbefristeten Normalarbeit werden dann – anstatt sich etwa für
gute und sichere Arbeitsbedingungen für alle einzusetzen – gegen die „Fremden“
verteidigt, indem diese abgewertet und ausgegrenzt werden. Die prekäre Situation
scheint die Betroffenen so sehr mit dem Rücken an die Wand zu stellen, dass sie
für die prekäre Situation der anderen schließlich immer weniger empfänglich
werden. Um sich vom Rand abzugrenzen wird nach Sündenböcken oder Gegnern
gesucht. Dort, wo Solidarität geübt werden müsste, herrschen dann eher
Misstrauen, Konkurrenz und Angst.

Einige aktuelle Forschungen lassen sogar einen allgemeinen Empathierückgang
in unserer Gesellschaft vermuten.
Diese Beobachtungen gehen dabei über das hinaus, was die soziologische Studie
„Die
Arbeitslosen von Marienthal
“ bereits in den 1930er Jahren ergab. Dass
nämlich die sozio-psychologischen Wirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit nicht –
wie vielfach angenommen – zu Revolte, sondern vielmehr zu passiver Resignation
führen.

http://www.youtube.com/watch?v=Gi99rTTdGAA&feature=player_embedded

3sat-Dokumentation: „Die Arbeitslosen von
Marienthal“

Verstehe ich das richtig: Umso mehr sich Armut und Unsicherheit
ausbreiten, umso mehr neigen die Menschen zu Entsolidarisierung und Ausgrenzung,
rationalisieren diese Haltung dann aber, um ihr eigenes Verhalten als
„anständig“ verstehen und bewerten zu können?

„Anständig“ trifft es nicht ganz. Mit „vernünftig“ oder „ökonomisch
vernünftig“ scheint mir das besser umschrieben zu sein. Und ja, eine Tendenz zur
Entsolidarisierung, Ausgrenzung und zur rational-ökonomischen Denkhaltung in den
unteren Etagen der Gesellschaft legen entsprechende Studien nahe.

Zeitgleich zu einer Bündelung des Reichtums in immer weniger privaten
Händen und einer Zunahme gesellschaftlicher Armut ist also zu konstatieren, dass
die Not der Ärmeren zunimmt, diese aber in aller Regel auf die „Erklärungsmuster
von oben“, die ihnen ihren Nächsten als Konkurrenten und Gefahr andienen, hören
und überdies aufgrund der Zunahme von Stress und Angst im eigenen Leben auch
immer weniger, lassen Sie es mich so sagen, „Ressourcen zur Empathie für andere“
aufzubringen vermögen?

So in etwa, ja. Der Stress und die Angst, die Sie ansprechen, beide sind
Elemente der Konkurrenz, der Rivalität mit den Mitmenschen. Je stärker der
Wettbewerb, desto stärker der Stress und die Ängste.

Unter diesem Wettbewerbsdruck ist für Empathie kein Platz mehr. Wir könnten
auch sagen: Unter Wettbewerbsbedingungen, in der jeder Mensch mit seinen
Mitmenschen konkurriert, wird Empathie „wertlos“ oder „sinnlos“. Ressourcen
werden dann nicht für Empathie aufgebracht, sondern dafür, in diesem Wettbewerb
zu „überleben“. Damit haben die Betroffenen ohnehin genug zu tun. Das mag im
ersten Moment etwas pathetisch klingen, aber denken Sie einfach an jene prekär
Beschäftigten, die am Rande ihrer physischen und psychischen Existenz agieren.
Außerdem steigt die allgemeine Armutsbedrohung der Menschen laut Statistischem
Bundesamt seit Jahren an: 2005 waren 12,2 Prozent der Bevölkerung von Armut
gefährdet; 2011 waren es bereits 16,1 Prozent, das
heißt jeder sechste Bürger im Land
. Den Betroffenen bleibt da sicher nicht
viel Muße, um sich um andere zu kümmern. Wer mag ihnen das in dieser Situation
vorwerfen?

Ich möchte Ihnen gleich ein paar Fragen zur ökonomischen Theorie
stellen. Lassen Sie mich aber vorher noch auf einen Sachverhalt kommen, dessen
Klärung für die Diskussion hilfreich sein kann: Sie sprechen in Ihrem Buch und
ihren Beiträgen von ökonomischen Theorien. Doch in der Debatte um die
Wirtschaftswissenschaften wird häufig von der ökonomischen Theorie gesprochen,
ganz so, als ob es nur eine Theorie gäbe. Könnten Sie das kurz
erklären?

Das liegt an der begrifflichen Unschärfe. Wenn „die“ ökonomische Theorie
kritisiert wird, dann lässt sich das in aller Regel als die Kritik an der
vorherrschenden ökonomischen Lehre bzw. am ökonomischen „Mainstream“ übersetzen.
Dies umfasst nicht eine einzige Theorie, sondern steht allgemein für Ansätze,
Ideen und wissenschaftliche Verfahren, die durch Lehrstühle vertreten und fester
Bestandteil der Lehrbücher sind, die in Fachzeitschriften diskutiert werden und
die sich auch der Förderung durch Stiftungen bzw. der Deutschen
Forschungsgesellschaft (DFG) erfreuen können. Alle ökonomische Wissenschaft
abseits dieser „vorherrschenden Lehre“ wird in der Diskussion als „heterodox“,
„post-autistisch“, „alternativ“ oder „kritisch“ bezeichnet.

Die Wirtschaftswissenschaften sind also insgesamt nicht einheitlich, sondern
werden für gewöhnlich in sogenannte „Schulen“ unterschieden, die wiederum ganz
eigene Theorien bzw. Ansätze vertreten. Beispielhaft seien Marx und Keynes
genannt, mit denen die breitere Öffentlichkeit vielleicht noch etwas anfangen
kann. Neo-Ricardianer, Evolutionsökonomen, Alt-Institutionalisten,
Wirtschaftsstilforschung usw. sind sicher viel weniger bekannt, stellen aber
ebenfalls „Schulen“ dar.

Allerdings ist auch zu beachten, dass selbst diese „Schulen“ selbst nicht
einheitlich auftreten müssen. Friedrun Quaas von der Universität Leipzig hat das
kürzlich sehr anschaulich für die „erste
Generation“ der Österreichischen Schule
gezeigt.

Trotz Ihres letzten Einwandes scheint die Unterscheidung nach
ökonomischen Schulen durchaus populär. Wie sieht es mit der „Neoklassik“ aus?
Der ökonomische Mainstream wird doch häufig als „neoklassisch“ bezeichnet, oder
nicht?

Das stimmt. Viele Kritikerinnen und Kritiker des Mainstreams behaupten, diese
vorherrschende Lehre wäre „neoklassisch“. Doch aus der ideengeschichtlichen
Perspektive ist der Begriff „Neoklassik“ für eine Strömung reserviert, die am
Ende des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts existierte.

Sicherlich hat sie die Wirtschaftswissenschaften insgesamt geprägt. Die heute
oftmals kritisierte Mathematisierung der Ökonomik wurde maßgeblich von dieser
Strömung vorangetrieben. Außerdem zählen neoklassische Modelle noch immer zum
Standard der ökonomischen Lehrbücher. Auch die Politik greift gerne auf die
Modelle zurück. Wenn es z. B. um die Ablehnung eines Mindestlohnes oder der
Erhöhung von Sozialtransfers geht, dann steht dort das neoklassische Modell des
Arbeitsmarktangebotes Pate.

Aber seit dem beginnenden 20. Jahrhundert hat sich in der Ökonomik viel
getan. Nehmen Sie z. B. die neoklassische Annahme vollständiger Informationen.
Die heutigen Ansätze gehen in aller Regel von unvollständigen und ungleich
verteilten Informationen aus. Und dort, wo einstmals vollständige Rationalität
unterstellt wurde, wird heute mit „bedingter“ Rationalität gearbeitet. Selbst
Kritikerinnen und Kritiker des ökonomischen Mainstreams kommen deshalb nicht
umhin, neben der Neoklassik noch andere Strömungen aufzuzählen, die zum
Mainstream gehören sollen, z. B. die Neue Institutionenökonomik oder die
Verhaltensökonomik. Von der vermeintlichen Dominanz der „Neoklassik“ bleibt dann
aber nicht mehr viel übrig.

Was ist dann aber der „Mainstream“ oder „vorherrschende
Lehre“?

Das ist eine gute Frage, über die meine Linzer Kollegin Katrin Hirte und ich
uns innerhalb
eines Projektes [PDF - 735 KB]
, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert
wird, auch den Kopf zerbrochen haben. Ich selbst tendiere dazu, unter
„Mainstream“ ein Sammelsurium von sich zum Teil sogar widersprechenden Theorien,
Ansätzen, Forschungsthemen und wissenschaftlichen Verfahren zu verstehen, die in
der universitären Lehre vertreten, bevorzugt gefördert und publiziert werden. In
der Summe geht es also nicht um „die eine“ Theorie oder „den einen“ Ansatz,
sondern um einen ganzen Strauß an Ideen, die nach außen hin auch häufig den
Anschein einer recht vielfältigen Ökonomik erwecken. Diese Scheinvielfalt zu
erörtern würde hier aber den Raum sprengen. Lassen Sie es mich so
zusammenfassen: Gemeinsam ist diesen Strömungen, dass sie deduktiv vorgehen,
sich auf mathematisch-formale Verfahren und Modellierungen konzentrieren, den
sogenannten „methodologischen Individualismus“ zugrunde legen (d. h. ökonomische
Vorgänge nur vom Handeln der Einzelnen aus betrachten bzw. auf den Einzelnen
„rückrechnen“) und einen gewissen Dogmatismus an den Tag legen.

In Ihrem soeben erschienenen Buch gehen Sie auch der Frage nach,
inwiefern die (vorherrschende) Ökonomik ganz grundlegend auf einem negativen
Menschenbild fußt und somit Gesellschaft mehr oder minder auch nur als Summe
sich bekämpfender Individuen zuerst einmal zu denken und dann aufgrund eben
dieser theoretischen Prämissen auch ebenso zu gestalten vermag. Was haben Sie
untersucht und zu welchen Schlüssen kamen Sie dabei?

Zunächst, das von Ihnen angesprochene Menschenbild ist eines der Elemente
innerhalb ökonomischer Theorien, das gegen die menschliche Integrität, Würde und
Gleichwertigkeit verstößt. In dem Zusammenhang spreche ich auch von ökonomischer
Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie.

Jedenfalls lässt sich unter Wirtschaftswissenschaftlern/innen immer wieder
eine persönliche Haltung beobachten, die das von Ihnen angesprochene negative
Menschenbild durchblicken lässt. So wurden Bettler und ärmere Schichten
praktisch seit jeher als unproduktiver Ballast der Gesellschaft betrachtet
respektive konstruiert.

Die Einstellungen „älterer“ Ökonomen wie etwa Joseph Townsend oder Robert
Malthus sind dabei gar nicht weit von jenen Haltungen entfernt, mit denen sich
heutzutage Wissenschaftler wie Gunnar Heinsohn oder Thilo Sarrazin in den Medien
präsentieren.

Worauf ich deshalb mit den Beispielen in meinem Buch hinweisen wollte, war,
dass es genügend Anlass dazu gibt und es notwendig ist, der Frage nachzugehen,
inwiefern sich solche Haltungen und Stereotype auch in ökonomischen Theorien
niederschlagen. Diese Frage war im Buch zwar nicht abschließend zu klären, aber
viele Beispiele deuten darauf hin, dass die Aussagen von Ökonomen weit weniger
„wertfrei“ oder „neutral“ sind, als sie das von ihrer Wissenschaft in der Regel
behaupten. Aber wie gesagt, das muss noch eingehender untersucht werden.

Das negative Menschenbild ist nur ein Aspekt von dem, was Sie in
Ihrem Buch als ökonomische Menschenfeindlichkeit bzw. Misanthropie bezeichnen.
Welche anderen Elemente stellen – wie Sie schreiben – die Würde, Integrität und
Gleichwertigkeit von Menschen infrage?

Nehmen Sie z. B. die Idee des Wettbewerbs. Dieser produziert immer Gewinner
und Verlierer. Dadurch entstehen aber immer auch Ungleichheiten, die auch noch
bewertet werden. Anders formuliert: Wettbewerb produziert Ungleichwertigkeiten.
Denn die „Sieger“ oder „Gewinner“ sind „mehr wert“, „erfolgreicher“,
„produktiver“ usw. als jene, die den Wettbewerb verloren haben. Über diese
Ungleichwertigkeiten wird in der Ökonomik aber kaum nachgedacht. Dabei zielt das
auf ganz zentrale wirtschaftsethische Fragen ab: Wie viel Wettbewerb wollen wir
uns zumuten? Wo wollen wir Wettbewerb zulassen? Wo ist er unzumutbar?

Ein anderes Beispiel ist die Prinzipal-Agenten-Theorie, die ungleich
verteilte Informationen unterstellt und davon ausgeht, dass Menschen ständig
ihre Mitmenschen übers Ohr hauen. Damit zwingt diese Theorie den menschlichen
Beziehungen ein „rationales“ Misstrauen auf. Das finden Sie dann z. B. im
Hartz-IV-Regime umgesetzt, wo faktisch ein chronisches Misstrauen gegenüber den
Bedürftigen besteht. Am Beispiel Hartz-IV zeigt sich vor allem, wie durch dieses
institutionalisierte Misstrauen die Menschenwürde und Integrität der Betroffenen
(ihre Selbstbestimmung) immer wieder in Zweifel gezogen wird.

Fragwürdig ist ebenso das Modell des neoklassischen Arbeitsmarktangebotes,
das den Erwerbslosen unterstellt, freiwillig in die Erwerbslosigkeit zu gehen
und es sich in der sozialen Hängematte bequem zu machen. Die „Wirtschaftsweisen“
verwendeten noch 2010 dieses einfachste Modell, um gegen eine Erhöhung der
Hartz-IV-Regelsätze zu argumentieren. Zu bedenken ist dabei, dass diese
Regelsätze das soziokulturelle Existenzminimum abdecken sollen und eine Erhöhung
praktisch diesem Ziel dienen soll – eine Erhöhung der Regelsätze dient dazu, die
Sozialtransfers an höhere Preise usw. (z. B. durch Inflation) anzupassen und
dadurch das soziokulturelle Existenzminimum an die Entwicklung anzupassen. Bei
den erwähnten Vorschlägen der „Wirtschaftsweisen“ ging es aber vor allem um die
ökonomische Anreizwirkung der Regelsätze. Die Regelsatzhöhe wurde unter den
Blickwinkel der ökonomischen Anreizwirkung gestellt und diente offenbar nicht
mehr der Gewährleistung des Existenzminimums, also der Achtung der
Menschenwürde.

Es lassen sich also eine Reihe von Hinweisen zusammentragen, die belegen,
dass die derzeit vorherrschende Ökonomik auf recht grundlegende Art und Weise
menschenfeindliche Züge trägt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die in der
Ökonomik verwendeten abstrakten mathematischen Gleichungen, die Graphen oder die
Spieltheorie auch noch dafür sorgen können, dass derlei negative Effekte aus dem
Blick geraten können.

http://www.youtube.com/watch?v=ly905DIisc8&feature=player_embedded

Prof. Wilhelm Heitmeyer zum Thema
“Gruppenbezogende Menschenfeindlichkeit”.

In Ihrem Buch widmen Sie aber auch ein Kapitel dem Thema „Ökonomik
und Ethik“, wo Sie deutlich aufzeigen, dass beides – Ökonomik und Ethik – kein
Widerspruch sein muss und in der Ökonomik auch Ansätze existieren, wie sich
diese Elemente der Menschenfeindlichkeit auffangen oder eingrenzen ließen.
Können Sie kurz erläutern, an welche Sie da im Speziellen denken?

In erster Linie an Adam Smith, der in seiner „Theory of Moral Sentiments“ das
Gefühl der „Sympathie“ beschrieb, also mit dem Mitmenschen „mitfühlen“ zu
können. Das ist in etwa auch das, was die breitere Öffentlichkeit vom
Kategorischen Imperativ Immanuel Kants her kennt: „Handle nur nach derjenigen
Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz
werde.“

Stellen Sie sich also mal vor, wie Empfehlungen von Ökonomen zum Sozialstaat
oder zum Arbeitsmarkt ausfallen würden, wenn sie sich in redlicher Weise
tatsächlich darum bemühen, nur Empfehlungen zu geben, die sie auch gegen sich
selbst gelten lassen würden.

Ähnliche Aspekte finden sich bei Johann Heinrich von Thünens Lohnfrage am
Rande seines „isolierten Staates“ von 1850. Dort standen sich Arbeitgeber und
Arbeitnehmer auf Augenhöhe gegenüber und verhandelten den Arbeitslohn mit Blick
auf die Bedürfnisse der Arbeitskräfte und in freier Selbstbestimmung.

Einen neueren Ansatz bietet die Integrative Wirtschaftsethik nach Peter
Ulrich. Auch dort wird gefordert, anderen nur solche Regeln, Gesetze etc. zu
empfehlen, die jemand auch bezogen auf sich selbst als zumutbar empfindet. Zu
beachten ist außerdem, dass das eigene Handeln bzw. das empfohlene Handeln von
Dritten als unzumutbar empfunden werden kann. Letztlich wird auch ein zumutbares
Maß an Mitverantwortung für Effekte gefordert, die nicht beabsichtigt waren,
aber andere beeinträchtigen – das spielt vor allem mit Blick auf Dinge wie
Umweltverschmutzung eine wichtige Rolle. Auch mit diesem Ansatz ließe es sich
vermeiden, dass die Gleichwertigkeit, Integrität und Würde der Mitmenschen
verletzt wird.

Lässt sich vor diesem Hintergrund nicht auch eine ethische
Verantwortung seitens der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
einfordern?

Richtig, genau das ist der Punkt. Die etablierten Ökonominnen und Ökonomen
von heute müssen sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, dass sie die
wirtschaftsethischen Aspekte von Theorien häufig gar nicht erst
thematisieren.

Ich spreche diesbezüglich bewusst von den etablierten Vertreterinnen und
Vertretern unserer Zunft, da ich diesen Vorwurf nicht so einfach an die
Studierenden weiterreichen möchte. Denn woher sollen diese die
wirtschaftsethischen Überlegungen von Adam Smith usw. oder gar die Integrative
Wirtschaftsethik kennen, wenn so etwas nicht gelehrt wird? Woher soll die
Sensibilität für wirtschaftsethische Fragen kommen, wenn die Lehrer selbst
keinerlei derartige Sensibilität an den Tag legen oder – im Gegenteil – sich
gegen ethischen Fragen dadurch immunisieren, dass sie angeblich eine „wertfreie“
Wirtschaftswissenschaft vermitteln?

Das klingt ähnlich dem, was der amerikanische Ökonomen Philip
Mirowski am Anfang dieses Jahres mit
Blick auf die ökonomische Theoriegeschichte
äußerte
: Die ökonomische Ideengeschichte wäre praktisch aus den
Universitäten vertrieben worden. Wie sehen Sie das?

Genau so, denn es deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Die Fachexpertise,
um sich über ideengeschichtliche Themen auszutauschen, hält sich in sehr
überschaubaren Grenzen. Es existieren nicht viele Lehrstühle, die ökonomische
Ideen- oder Theoriegeschichte praktizieren. Und wenn junge Wissenschaftler/innen
selbst einmal ideengeschichtlich forschen wollen, sind sie damit konfrontiert,
dass behauptet wird, diese Forschung würde keinen Erkenntnisgewinn bringen. Im
Grunde müssen sie sich sogar fast schon dafür rechtfertigen, wenn sie mal keine
Formeln produzieren und stattdessen so dreist sind, das Textverständnis ihrer
Kolleginnen und Kollegen „unnötig“ zu strapazieren.

Das wirkt sich dann natürlich negativ auf die Möglichkeiten aus, innerhalb
der Universitäten auch die wirtschaftsethischen Aspekte der ökonomischen
Theorien zu vermitteln. Denn es existieren in der Ökonomik ja tatsächlich
Ansätze, die die negativen Effekte der Theorien zumindest eindämmen könnten. Die
Ökonomik muss also gar nicht menschenfeindlich sein! Das ist mir besonders
wichtig, da ich nicht dahingehend missverstanden werden möchte, einseitig auf
die Ökonomik einschlagen zu wollen.

Jedenfalls wäre es in dem Kontext notwendig, die Fächer Wirtschaftsethik und
ökonomische Ideengeschichte als Pflichtfächer im Studium zu etablieren und
entsprechende Lehrstühle einzurichten. Leider sind wir davon aber weit
entfernt.

Lassen Sie mich noch einmal auf das negative Menschenbild
zurückkommen. Würden Sie so weit gehen und sagen, dass sich dieses
negativ-ökonomische Menschenbild immer weiter ausbreitet und aktuell
gesellschaftliche Bereiche durchdringt, die bisher frei davon gewesen sind? Oder
anders: Hat sich die neoliberale Wettbewerbsideologie auch auf nicht-ökonomische
Bereiche ausgedehnt? Und wenn ja, dann wie und wo?

Sie zielen mit Ihrer Frage auf die sogenannte Ökonomisierung unserer
Gesellschaft ab. Ich würde das nicht allein am Menschenbild festmachen wollen.
Denken Sie z. B. an die Ökonomisierung im Hochschulbereich: Da geht es vor allem
um die Quantifizierung, Bewertung und Verwertung von „Qualität“ (z. B. der
Forschung), um schnellere und vermeintlich „effizientere“ Studienabläufe.
Hochschul- und Forschungsrankings, Credit Points usw. sind die entsprechenden
Schlagworte.

Aber ja, Sie finden das von Ihnen erwähnte negative Menschenbild in
verschiedenen Bereichen des Alltags. Denken Sie z. B. an diese Modekette „Hollister“, die
ihren Mitarbeitern so sehr misstraute, dass sie ihren Toilettengang
kontrollieren wollte. Durchsetzen konnte sich das Unternehmen zum Glück nicht.
Aber allein das Vorhaben zeigt, wie das Management über die eigenen Angestellten
denkt.

Ähnliches lässt sich auch im Bereich des Sozialstaates beobachten. Nehmen Sie
bspw. die Forderung, Sachleistungen statt Geld an Hilfsbedürftige zu verteilen.
Dort schwingt ja immer das Vorurteil mit, die Bedürftigen könnten mit dem Geld
nicht umgehen und würden es für sonstwas ausgeben. Eine wertschätzende Beziehung
auf Augenhöhe sähe anders aus!

Neben diesem Menschenbild können wir auch nicht die Augen davor verschließen,
dass der Mensch ganz allgemein zunehmend unter dem Druck steht, sich „am Markt“
zu verwerten. Er muss ständig mobil, flexibel und erreichbar sein. Er steht
immer in der Gefahr, als Kostenfaktor „minimiert“ also abgewertet und entwertet
zu werden. Rein ökonomisch wird außerdem häufig argumentiert, dass jede
Bildungsausgabe eine „Investition“ ins eigene „Humankapital“
darstellt. Die Appelle, in die Bildung und die eigene Bildung zu investieren,
sind ja wohlbekannt.

Insofern befinden sich die Menschen von heute im Hamsterrad eines permanenten
Optimierungsmodus und sie sind damit konfrontiert, immer häufiger ein
ökonomisches Nutzenkalkül an den Tag zu legen. Aus Mangel an Alternativen ist
dies mehr oder minder zugleich eine Überlebensnotwendigkeit.

Dieses Nützlichkeitsdenken unterminiert aber gleichzeitig unsere sozialen und
ethischen Werte, da es diese Werte unter den Vorbehalt der ökonomischen
Nützlichkeit stellt. Galt die Menschenwürde einstmals als unbedingtes
Grundrecht, so droht sie, nur doch dort gewährt zu werden, wo sie „nützt“. Damit
sind jene Werte, die als unbedingt gelten sollen, nicht mehr unbedingt, d. h.
sie stehen nur noch einem Teil der Menschen zu – nämlich jenen, die wir als
„nützlich“ empfinden. Analog dazu wird also Solidarität zunehmend nur noch dort
praktiziert, wo es uns ökonomisch nützt bzw. wo sie sich „verwerten“ lässt.

Damit sind wir wieder am Anfang Ihrer Fragen. Meine These ist, dass in dem
Maße, wie wir die Ökonomisierung unserer Lebensbereiche zulassen, sich dieses
rational-kühle Menschenbild immer weiter ausbreitet und möglicherweise zunehmend
an die Stelle anderer wichtiger gesellschaftlicher und humaner Werte tritt. Das
bedeutet aber auch: Wir befinden uns in der Gefahr, immer weniger wie Menschen
miteinander umzugehen.

Kann man darin eine Rückkehr des Sozialdarwinismus sehen? Oder lassen
Sie es mich anders formulieren: Wird damit letztlich nicht das Recht der
Stärkeren forciert?

Ja, hinter der eben erwähnten Entwicklung steht spürbar die Idee des
natürlichen Daseinskampfs, in dem nur die Stärksten überleben. In gewisser Weise
ist das aber auch ein banaler Zusammenhang: Mehr Wettbewerb bedeutet eben mehr
Konkurrenz, mehr Auslese und stellt damit eine Rechtfertigung für das Recht der
Stärkeren dar.

Ob es sich bei dieser Tendenz um eine Rückkehr handelt, das bezweifle ich
jedoch. Denn das würde voraussetzen, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in
der dieses Verständnis von „Sozialdarwinismus“ nicht galt. Genau das glaube ich
ehrlich gesagt nicht.

Aber Sie haben Recht, es lässt sich beobachten, dass trotz der Finanzkrisen
der letzten Jahre das Gerede vom „Wettbewerb“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ die
Oberhand gewonnen hat. Das impliziert das von Ihnen erwähnte „Recht der
Stärkeren“. Die Frage, ob wir uns z. B. in Europa überhaupt den Stress einer
Konkurrenz zwischen den nationalen „Standorten“ antun wollen, wie viel
Konkurrenz wir als zuträglich und zumutbar erachten, auch mit Hinblick auf die
Selbsterhaltungsfähigkeit anderer Euro-Länder, diese Probleme scheinen mir
momentan hinter die Wettbewerbsphrasen zu treten. Fast unbemerkt wird damit auch
die Frage nach einer Europäischen Solidarität oder – anders ausgedrückt – nach
Europäischen Sozialstandards in den Hintergrund gedrängt.

Sehen Sie einen Ansatz, diesen Prozess rückgängig zu
machen?

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Sicherlich wäre dazu ein Mix an
verschiedenen Maßnahmen notwendig, allen voran natürlich mit Blick auf die
Bildung und Erziehung.

So könnte ein wichtiger Beitrag bereits darin bestehen, die ökonomische Lehre
zu verändern. Lehrstühle für Wirtschaftsethik und ökonomische Theoriegeschichte
zu etablieren, die sich vielleicht auch verstärkt interdisziplinär betätigen,
das wäre z.B. eine Möglichkeit.

Wenn Sie mich nach konkreten Ansätzen innerhalb der ökonomischen Theorie
fragen, dann wäre schon viel geholfen, wenn etablierte Ökonominnen und Ökonomen
die erwähnte „Sympathy“ von Adam Smith oder die „Soziale Irenik“ – also die
friedensstiftende Funktion etwa im Sinne von Alfred Müller-Armack – im Rahmen
der Sozialen Marktwirtschaft beherzigen würden, bevor sie sich wieder zu Themen
wie Arbeitslosengeld II, Sparmaßnahmen im Sozialstaat usw. äußern.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. rer. pol. Sebastian Thieme, Jahrgang 1978, ist Volkswirt
und derzeit Mitarbeiter am Zentrum für Ökonomische und Soziologische Studien an
der Universität Hamburg. Er forscht zu Heterodoxie und Orthodoxie, Ökonomischer
Misanthropie, Subsistenz(-ethik), Wirtschaftsethik, Wirtschaftsstilforschung und
Ökonomischer Ideengeschichte.

Das Interview führte Jens Wernicke.




28.»Steckbriefe« für Lohndrücker und Firmen herauszugeben, die sich außerhalb der Tarifgemeinschaft stellen!

 


 
 
 
 
 
Unsere 95
Thesen
 
 
--->>>
 
 
28. Wir
fordern die Gewerkschaften auf, »Steckbriefe« für Lohndrücker und Firmen
herauszugeben, die sich außerhalb der Tarifgemeinschaft
stellen!

 


Unsere 95 Thesen
 
 
[via Junge Welt]
 
 
 
»Wir sehen uns dazu veranlaßt,
weil genau wie zu Luthers Zeiten das Gefüge unserer Gesellschaft in Unordnung
ist. Die Schere zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm klafft in nie da
gewesenem Ausmaß auseinander.
(…) Wir wollen mit unserem
Thesenanschlag ein Zeichen dafür setzen, dass es an der Zeit ist, Widerstand zu
leisten.« junge Welt dokumentiert die 95 Thesen.



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