16
Sep
2015

Psychische Tätigkeit und objektive Realität --->>> Das Problem der Erkenntnis

 
 

Sein und Bewusstsein [Teil
12]
 
von Sergej L. Rubinstein,
bereitgestellt von Reinhold Schramm
 
[via
scharf-links.de]
 
 
 

Psychische Tätigkeit und objektive Realität

Das Problem der Erkenntnis

4. Der Erkenntnisprozess.

Die Wahrnehmung als sinnliche Erkenntnis der
äußeren Welt

Der wechselseitige Zusammenhang der Daten des Gesichts- und
des Tastsinns beruht darauf, dass die Gesichts- und die Tastempfindungen
wenigstens teilweise ein und dieselben Eigenschaften (Form, Größe usw.)
des Gegenstandes in verschiedenen Modalitäten widerspiegeln. Sehen und Tasten
sind also keine isolierten Sphären (Modalitäten) der Sinnlichkeit: sie haben
ihre gemeinsame Grundlage in den Eigenschaften des Gegenstandes, den sie
widerspiegeln. Das System der zwischen den Analysatoren bestehenden Verbindungen
hängt primär von den Gegenständen ab, die widergespiegelt werden. Dagegen hängt
die Widerspiegelung des Gegenstandes sekundär vom System der Verbindungen ab,
die sich auf Grund der vorausgegangenen Erfahrungen gebildet haben. Deshalb kann
man die Tätigkeit der Analysatoren nur dann richtig verstehen, wenn man von der
Notwendigkeit ausgeht, die sie gesetzmäßig hervorgebracht hat, nämlich von der
Notwendigkeit, die Welt wiederzuspiegeln, um in ihr leben und handeln zu können.
Nur dann wird auch die biologische Rolle und die erkenntnistheoretische
Bedeutung der Analysatoren verständlich.

Die neurodynamische Grundlage für das Abbild des Gegenstandes
ist ein System kortikaler Verbindungen, in dem die verschiedenen Analysatoren
miteinander verknüpft sind. Das optische Bild eines Dinges enthält auch
Tastqualitäten, weil dem Wahrnehmen zentrale kortikale Verbindungen zugrunde
liegen, die nicht innerhalb eines Analysators, sondern auch zwischen den
verschiedenen Analysatoren entstehen. Grundlage der optischen Wahrnehmung ist
nicht das Netzhautbild an und für sich; dieses ist lediglich der Ausgangspunkt
für die Entstehung einer optischen Wahrnehmung. Die „retinale“, das heißt
peripherische Psychologie des Sehens sowie aller anderen Sinnestätigkeiten ist
zusammengebrochen [89].

Zum System der kortikalen Verbindungen, welche die
neurodynamische Grundlage für das sinnliche Bild des Gegenstandes sind, gehören
nicht nur die vorhandenen Erregungen, sondern auch Erregungsspuren – das
Resultat früherer Erfahrung. Schon A. A. Uchtomski schrieb: „Bei der optischen
Rezeption der Gegenstände lässt sich der Mensch keineswegs nur von der optischen
Struktur leiten, die in jedem Auge entsteht, sondern vor allem von der
Projektion des Netzhautbildes auf die Großhirnrinde und von den Verbindungen,
die bei dessen Formung in das kortikale Bild eingehen, und zwar von der
gleichzeitigen Rezeption des Gehörs, des vestibularen, taktilen und
propriorezeptiven Apparates. Das fertige optische Bild ist die Frucht
vielfältiger praktischer Korrelation und Kontrolle
[90].“ Da die optische
Wahrnehmung eines Gegenstandes nicht einfach eine subjektive Modifikation des
Sehens, der optischen Sensibilität, sondern eine Wahrnehmung des Gegenstandes
ist, nimmt sie gesetzmäßig nicht nur das in sich auf und schließt es zu einem
einheitlichen Gebilde zusammen, was speziell und ausschließlich das Sehen als
Form der Sensibilität kennzeichnet, sondern den wahrnehmenden
Gegenstand. Das optische Abbild eines Gegenstandes ist nicht das
Ergebnis der Tätigkeit des optischen Rezeptors allein, sondern auch das der
menschlichen Erfahrung und Praxis.

Für die wirklichkeitsadäquate Wahrnehmung spielt die
sogenannte Wahrnehmungskonstanz eine wesentliche Rolle. Die Größen-,
Formkonstanz usw. besteht darin, dass wir die tatsächliche Größe, Form usw. des
Gegenstandes, seiner wirklichen Größe, Form usw. entsprechend, als beständig
wahrnehmen, und zwar in bestimmten Grenzen unabhängig von den Veränderungen der
Wahrnehmungsbedingungen (Entfernung, Gesichtswinkel), obwohl sich das
Netzhautbild dabei verändert. Diese Formulierung zeigt, weshalb die
Tatsache der Konstanz zu einem Problem wird. Die
Wahrnehmungskonstanz wird zu einem Problem, das eigentlich unlösbar ist, wenn
wir das Abbild des Gegenstandes unmittelbar auf das periphere
(Netzhaut-)Bild
beziehen. Wenn sich die Entfernung der Gegenstände vom Auge
und der Gesichtswinkel, unter dem sie betrachtet werden, verändern, so verändert
sich auch die Projektion des Gegenstandes auf der Netzhaut. Deshalb kann die
peripherische Theorie nicht erklären, wie eine beständige (konstante)
Wahrnehmung der wirklichen Größe und Form des Gegenstandes zustande kommt.

Das Konstanzproblem kann nur gelöst werden, wenn man die
Konzeption der „Analysatoren“ zugrunde legt, nach welcher der periphere
Rezeptor, die Leitungsbahnen und das entsprechende zentrale Feld als einheitlich
funktionierendes Ganzes aufgefasst werden. [91].

Die alte Auffassung versuchte, dieses Problem mit Hilfe einer
merkwürdigen Zweifaktorentheorie zu lösen, nach der die Empfindung (als Ergebnis
peripherer rezeptorischer Tätigkeit) „akonstant“ ist: Sie verändert sich mit
jeder Veränderung der Netzhautprojektion und entspricht nicht der wirklichen
Größe und Form des wahrgenommenen Gegenstandes. Dieses „akonstante“ Bild wird
dann durch zentrale Faktoren korrigiert, „transformiert“ u. ä., die nicht mehr
sensorischer, sondern bereits intellektueller Natur sind und sich mit den
peripheren vereinigen. Einem solchen, eigentlich „klassischen“ Standpunkt
begegnet man bereits bei Helmholtz. In diesen oder jenen Varianten ist er bis
heute erhalten geblieben. Er hängt organisch mit der dualistischen
Zweifaktentheorie der Wahrnehmung zusammen, nach der die Wahrnehmung das Produkt
zweier verschiedenartiger Faktoren ist, des peripheren und des zentralen, des
sensorischen und des intellektuellen. Mit der dualistischen Wahrnehmungstheorie
fällt auch ihre „Erklärung“ der Konstanz.

Entgegen den Versuchen, die Konstanz ausschließlich auf den
äußeren Eingriff intellektueller Faktoren zurückzuführen [92], ist zu sagen,
dass die Konstanz eine der Wirklichkeit entsprechende Wahrnehmung der räumlichen
und anderer (sensorischer) Eigenschaften des Gegenstandes ist und primär durch
die Organisation des sensorischen Prozesses der Wahrnehmung bedingt ist. Zum
besseren Verständnis dieser Tatsache ist zu bedenken, dass, wie wir bereits
bemerkt haben, das sinnliche Abbild des Gegenstandes als Ergebnis einer
komplizierten kortikalen Tätigkeit entsteht und das Produkt vielfältiger
Verbindungen mit den Rezeptoren anderer Apparate (des taktilen, des
propriorezeptiven u. a.), in welche die Netzhautprojektion einbezogen wird,
sowie der mannigfachen praktischen Korrelation und Kontrolle ist.

Die intellektuellen Faktoren (Wiedererkennen des Gegenstandes,
Kenntnis seiner Eigenschaften auf Grund früherer Erfahrung) begünstigen die
Wahrnehmungskonstanz, wie das insbesondere Beins Daten über das Verhältnis der
Wahrnehmung der Größe der Gegenstände bezeugen [93]. Aber erstens darf man die
Größen- und Formkonstanz sowie die anderer Eigenschaften der Gegenstände nicht
nur von diesen intellektuellen Faktoren her ableiten (isoliert betrachtet, sind
sie nicht imstande, die Erscheinung der Konstanz als Ganzes zu erklären), und
zweitens bedingen die intellektuellen Faktoren – Vorstellungen, Kenntnisse über
die Eigenschaften des wahrgenommenen Gegenstandes, die in der Praxis, in der
Erfahrung entstanden sind – die Wahrnehmungskonstanz nicht in der Weise, dass
sie die ursprünglich sinnlichen Daten von außen her „transformieren“, sondern
bedingen sie im Prinzip genauso, wie das die Daten der anderen Rezeptoren tun,
indem sie durch die kortikalen Verbindungen in den einheitlichen Prozess der
Gegenstandswahrnehmung einbezogen werden.

Der Komplex der optischen und taktilen Qualitäten bildet das
Skelett der Gegenstandswahrnehmung. Insbesondere durch das Tasten werden, wie
bereits gesagt, die Haupteigenschaften des Gegenstandes als eines materiellen
Dinges erkannt. Durch das aktive Tasten der sich bewegenden Hand werden außerdem
die Ergebnisse des optischen Wahrnehmens anderer, insbesondere der räumlichen
Eigenschaften der Dinge überprüft und kontrolliert. Im Zusammenhang damit zeigt
die Untersuchung, dass die beim Betasten eines Gegenstandes gewonnenen Daten in
das Bild des Gegenstandes eingehen, indem sie vorher visualisiert
werden, einen optischen Ausdruck erhalten. Die bildhafte Wahrnehmung des
Menschen ist vorwiegend optischer Natur. Das optische Bild des Dinges sammelt,
synthetisiert und organisiert gleichsam um sich herum die Angaben der übrigen
Sinnesorgane. Die grundlegenden Angaben, die das optische Bild in sich
aufnimmt, sind die Daten des Tastsinns.

Die Daten aller übrigen Rezeptoren gruppieren sich um dieses
Zentrum, sie vereinigen die Eigenschaften des auf diese Weise umrissenen Dinges
zu seinem Erscheinungsbild. So orientieren sich beispielsweise die
Gehörsempfindungen nach den optischen Daten des Gegenstandes als der Quelle, der
die Töne entstammen.

Eine solche Organisation der Wahrnehmung bildet sich während
der Ontogenese in dem Maße, wie beim Kinde die entsprechenden
bedingtreflektorischen Verbindungen entstehen. Ungefähr im zweiten Lebensmonat
kann man bereits beobachten, dass sich die Augen der Schallquelle zuwenden. Ein
Ton beginnt optisches Suchen nach diesem Gegenstand hervorzurufen.

Die Daten aller Arten von Sensibilität gruppieren sich um jene
„Modalität“, in welcher der Gegenstand der Wahrnehmung am
ausgeprägtesten in Erscheinung tritt. Zahlreiche Tatsachen beweisen dies. So
zeigen Beobachtungen über die Lokalisierung einer Rede in einem mit
Lautsprechern ausgestatteten Saal, dass der Ton, der, solange der Hörer den
Sprecher nicht sah, im nächstliegenden Lautsprecher lokalisiert wurde, in dem
Moment auf den Sprecher bezogen wird, in dem dieser im Gesichtsfeld des Hörers
auftaucht [94]. Die Bedeutung dieser Tatsache besteht nicht darin, dass die
akustische Wahrnehmung der optischen untergeordnet ist, sondern dass sich jede
Wahrnehmung, auch die akustische, nach dem Gegenstand orientiert, der in der
Sensibilität dieser oder jener Art (Gesicht, Gehör, Tastsinn u. a.) am
ausgeprägtesten in Erscheinung tritt.

Das Wesen der Sache liegt darin, dass nicht die akustische
Empfindung, sondern der Ton als eine im akustischen Abbild
widergespiegelte physikalische Erscheinung lokalisiert wird. Darum wird
ein Ton abhängig vom optisch wahrnehmbaren Ort des Gegenstandes lokalisiert, der
ihn hervorbringt [95]. In ähnlicher Weise wird ein optisch wahrgenommener
Gegenstand dort lokalisiert, wo er für das aktive Tasten, für die auf ihn
gerichtete Tätigkeit, erscheint. Lokalisiert wie wahrgenommen werden eigentlich
nicht die optischen Abbilder, sondern die optisch wahrgenommenen Gegenstände,
die materiellen Dinge, genauso wie die Wahrnehmung selbst keine Wahrnehmung der
Abbilder (Wahrnehmung der Wahrnehmung), sondern der Gegenstände, der materiellen
Dinge ist.

Das gleiche kann auf dem Gebiet des Tastsinns und des
kinästhetischen Sinns beobachtet werden. Wenn wir die Hand bewegen, beteiligen
sich die Muskeln der Schultern und des Oberarms an der Bewegung, aber uns werden
nicht die Signale von den Muskelverschiebungen bewusst, sondern die Gegenstände,
welche die Bewegungen bedingen. Wenn wir mit einem Werkzeug arbeiten, das wir in
der Hand halten, dann spüren wir die Besonderheiten des Materials, das wir mit
dem Werkzeug berühren. So empfinden wir beim Schreiben den Widerstand, den die
Oberfläche des Tisches dem Bleistiftdruck entgegensetzt; der Chirurg empfindet
den Widerstand der Organe, die er mit dem Skalpell berührt. Ebenso werden wir
uns beim Gehen nicht der Impulse bewusst, die von den Muskelkontraktionen
ausgehen, sondern der Beschaffenheit der Oberfläche, auf der wir gehen.« [Teil
12] {...}

Anmerkungen

89 S. L. Rubinstein, Die Lehre I. P. Pawlows und die Probleme
der Psychologie. S. 160; E. N. Sokolow, Der wechselseitige Zusammenhang der
Analysatoren bei der Widerspiegelung der Außenwelt. S. 207. Sammelband: Die
Lehre I. P. Pawlows und die philosophischen Fragen der Psychologie. Verlag Volk
und Gesundheit, Berlin 1955.

90 A. A. Uchtomski, Abriss der Physiologie des Nervensystems.
Gesammelte Werke. Leningrad 1954, Bd. IV, S. 175 (russ.).

91 Über die Wahrnehmung der tatsächlichen Größe und Tiefe vgl.
vor allem I. P. Pawlow, Naturwissenschaft und Gehirn, Sämtliche Werke,
Akademie-Verlag, Berlin 1953, Bd. III/1. Vgl. auch E. N. Sokolow, Probleme der
Wahrnehmungskonstanz im Lichte der Lehre I. P. Pawlows. „Sowjetskajy pedagogika“
(Sowjetpädagogik), 1953, Nr. 4, S. 67–77 (russ.).

92 Einen solchen Standpunkt nahm Wygctski ein, der ihn
ontogenetisch zu erhärten versuchte. Obwohl von einigen Autoren ein geringes
Anwachsen der Wahrnehmungskonstanz im Alter zwischen zwei und vier Jahren
beobachtet wird, spricht eine ganze Reihe von Untersuchungen dafür (Frank,
Beyrl, Klimpfinger, Brunswik), dass im allgemeinen die Größen-, Form- und
Farbkonstanz bereits im Alter von zwei Jahren vorhanden ist. Nach den gleichen
Untersuchungen sinkt sie im Alter von 16 bis 18 Jahren. Vgl. S. Klimpfinger, Die
Entwicklung der Gestaltkonstanz vom Kind zum Erwachsenen. (In der Reihe: E.
Brunswik, Untersuchungen über Wahrnehmungsgegenstände) „Archiv für die gesamte
Psychologie“, Heft 88, S. 3-4.

93 Siehe E. S. Bein, Zum Problem der Größenkonstanz. In:
„Untersuchungen zur Psychologie der Wahrnehmung“, Moskau/Leningrad 1948, S.
167-199 (russ.).

94 Vgl. die Beschreibung einer von uns protokollarisch
festgehaltenen Beobachtung in den „Grundlagen der allgemeinen Psychologie“ (Volk
und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 1961, S. 282/283), die in Untersuchungen
von Kulagin, der den bedingt-reflektorischen Mechanismus dieser Erscheinung
untersuchte, experimentell überprüft wurde.

95 Vgl. J. A. Kulagin, Experimentelle Untersuchungen zur
Richtungswahrnehmung eines tönenden Gegenstandes. „Woprossy psychologii“ (Fragen
der Psychologie), 1956, Nr. 6 (russ.).

Quelle: Sergej L. Rubinstein: Sein und Bewusstsein.
Die Stellung des Psychischen im allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen in
der materiellen Welt.
Psychische Tätigkeit und objektive Realität. Das
Problem der Erkenntnis. Der Erkenntnisprozess. Die Wahrnehmung als
sinnliche Erkenntnis der äußeren Welt.
Akademie-Verlag, Berlin 1977.

05.09.2015, Reinhold Schramm (Bereitstellung)




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