16
Sep
2015

-->> Es wird gern über Fachkräftemangel geklagt. Wer ihn sucht, stellt allerdings fest: #Es #gibt #ihn #gar #nicht

 
 
 

Die Fata Morgana

In Unternehmen und Verbänden wird gern über den
Fachkräftemangel geklagt.

Wer ihn sucht, stellt allerdings fest: Es gibt
ihn gar nicht.

[via brand
eins]

http://www.brandeins.de/archiv/magazin/sinn/artikel/die-fata-morgana.html

- Stünde Axel Haitzer wirklich kurz vor
dem Abitur, wäre er frustriert. 250 Unternehmen hat er angeschrieben, und zwar
nur solche, die jedes Jahr mindestens drei junge Menschen ausbilden und das im
Netz und in Zeitungen inserieren. Er stehe kurz vor der Fachhochschulreife, hieß
es in seinem Schreiben. Nun frage er sich, wie es weitergehen solle. Ein
Studium? Kombiniert mit einer Ausbildung? Oder eine normale Lehre?

"Bitte geben Sie mir nähere
Informationen, welche Perspektiven mir Ihr Unternehmen bieten kann. Informieren
Sie mich bitte insbesondere, warum ich gerade bei Ihnen ins Berufsleben starten
sollte. Was zeichnet Ihr Unternehmen als Ausbildungsbetrieb besonders
aus?"

Immerhin sechs von zehn Unternehmen
antworteten, per Mail oder per Brief - in zwei Fällen allerdings nur mit dem
Vermerk, dass der Ansprechpartner aus der aktuellen Stellenanzeige "nicht mehr
im Unternehmen tätig" sei. Aber auch die wenigen, die sich zu einer
ausführlicheren Antwort aufrafften, hatten den Brief offenbar nicht gelesen.
Eine Firma dankte dem Absender für seine Bewerbung, obwohl er sich gar nicht
beworben hatte. Eine andere informierte ihn unnötigerweise darüber, dass die
Ausbildungsplätze vergeben seien. Gern verwies man auf die Web-Seiten und teilte
mit, individuelle Fragen aus Kapazitätsgründen nicht beantworten zu
können.

Nur wenige Personaler tappten nicht in
die Standardantwortfalle, dafür formulierten sie ihren Standpunkt recht
deutlich: Man gehe von der möglicherweise altmodischen Vorstellung aus, dass
sich die Bewerber beim Unternehmen zu bewerben hätten, formulierte einer spitz.
Und der Personalchef eines bekannten börsennotierten Unternehmens setzte seine
Unterschrift unter den Satz: "Für uns ist es schwierig zu sagen, warum Sie einer
unserer Auszubildenden werden sollten, die Entscheidung liegt bei
Ihnen."

Axel Haitzer steht nicht kurz vor der
Reifeprüfung. Die hat er bereits 1983 abgelegt. Er ist 52 und Berater. Er hilft
Unternehmen dabei, Fachkräfte zu finden und an sich zu binden. Gerade hat er das
Buch "Bewerbermagnet" veröffentlicht und mit der Testanfrage Personaler auf die
Probe gestellt. Mit seiner Agentur Quergeist ist er einer der Dienstleister, die
sich um eines der vermeintlich dringendsten Probleme der deutschen Wirtschaft
kümmern: den Fachkräftemangel.

Haitzer nennt ihn ein "modernes
Märchen". Und erzählt Anekdoten wie die von dem Unternehmen, das in seiner
Stellenanzeige immerhin eine Telefonnummer angibt. Wer sie wählt, wird von einer
Stimme vom Band begrüßt: "Wenn Sie eine Frage zu Ihrer Gehaltsabrechnung haben,
drücken Sie die 'Eins'. Wenn es um Reisespesen geht, drücken Sie bitte die
'Zwei'..." Wer lange genug durchhält, kann sich am Ende der Ansage immerhin für
ein persönliches Gespräch entscheiden.

Nach Haitzers eigenen Erhebungen aus den
ersten vier Monaten dieses Jahres war fast in jeder dritten Stellenanzeige in
der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und in jeder zweiten in der "Süddeutschen
Zeitung" erst gar kein persönlicher Ansprechpartner für die Bewerber
genannt.

Wer sich so wenig Mühe gibt, den kann
der Mangel gar nicht so sehr bedrohen. "Es gibt wohl kaum einen Unternehmer, der
sich hinstellen würde und von einem Kundenmangel spräche", sagt Haitzer. Und
schon gar keiner käme auf die Idee, von Politikern, Industrie-, Handels- und
Handwerkskammern oder Berufsverbänden zu fordern: "Bringt uns Kunden!" Dabei
seien auch Fachkräfte genau wie Kunden eine knappe Ressource, und es sei Aufgabe
der Unternehmen, die Versorgung mit qualifizierten und motivierten Mitarbeitern
zu sichern.

Das klingt einleuchtend. Was aber ist
mit den vielen Studien, die die beständigen Klagen von Unternehmen und Verbänden
unterfüttern, das Wachstum werde von einem Mangel an qualifiziertem Personal
gebremst? Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass der Begriff
"Fachkraft" dort häufig schwammig definiert ist, dass der angebliche Mangel je
nach Branche, Region und untersuchtem Zeitraum sehr variiert. Und dass hinter
dramatischen Daten oft nicht einmal eine repräsentative Umfrage
steht.

"Meines Wissens gibt es keine einzige
empirisch fundierte Untersuchung, die belegt, wo wir aus welchen Gründen in
welchem Maß unter Fachkräftemangel leiden", sagt Joachim Sauer. Er ist Präsident
des Bundesverbands der Personalmanager (BPM) und im Hauptberuf
Personalgeschäftsführer und Arbeitsdirektor von Airbus. Studien, die die Zahl
der Tage erheben, die es dauert, um eine Stelle neu zu besetzen, kommentiert er
mit: "Da sollte man sich mal die Frage stellen, ob man möglicherweise
unzureichend rekrutiert - dieser Indikator überzeugt mich nicht."

Jedenfalls nicht, findet Sauer, solange
es mehr Arbeitslose gibt als offene Stellen und das Potenzial an nicht
erwerbstätigen Frauen - mehr als 600 000 Alleinerziehende leben von ALG II -
brachliegt. Und: "Selbst wenn es in einzelnen Regionen oder Branchen
Personalengpässe gibt, könnten die Unternehmer kreativ darauf
reagieren."

Auch Karl Brenke glaubt nicht an den
Fachkräftemangel. Der Ökonom und Soziologe arbeitet am Deutschen Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und provoziert ganz gern. Und so nahm er
die Aufregung sportlich, die entstand, als er Ende vergangenen Jahres einer
seiner Untersuchungen den Namen "Fata Morgana Fachkräftemangel" geben wollte -
sein damaliger Chef Klaus Zimmermann das aber verhinderte. Der warnte nämlich
selbst eindringlich vor dieser Schimäre.

Brenke erklärt in seinem kleinen,
vollgestopften Büro im repräsentativen DIW-Gebäude, wie schwierig es ist, dem
Fachkräftemangel wissenschaftlich zu Leibe zu rücken. Eine typische Studie, die
das Phänomen bei Ingenieuren belegen soll, funktioniert so: Die bei den
Arbeitsagenturen registrierten offenen Stellen werden mit sieben multipliziert,
weil Unternehmen längst nicht alle vakanten Positionen melden. Dem stellt man
die Zahl der Arbeitslosen gegenüber. Ergebnis: Es klafft eine eklatante Lücke
zwischen Angebot und Nachfrage.

"Doch der Arbeitsmarkt funktioniert
völlig anders", sagt Brenke. Volkswirtschaftlich betrachtet, gebe es eine
bestimmte veränderliche Zahl an Beschäftigten. Abhängig zum Beispiel vom
"Ersatzbedarf" - wenn Menschen in Rente oder Elternzeit gehen. Oder vom
"Expansionsbedarf" - wenn Unternehmen in einer Wachstumsphase zusätzliches
Personal brauchen. Dem steht das nicht ausgeschöpfte Potenzial gegenüber:
Arbeitslose, Berufsanfänger, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen haben.
Außerdem die stille Reserve: Frauen, die nach der Elternzeit wieder arbeiten
wollen, oder Menschen, die nicht in ihrem erlernten Beruf tätig
sind.

Merkwürdig: Viele reden über das
Problem. Aber kaum einer tut was dagegen

Daten für ein solch differenziertes Bild
sind nicht leicht zu ermitteln. Für Ingenieure - die Berufsgruppe, die beim
Thema Fachkräftemangel zuerst genannt wird - hat Brenke das getan. Und dabei
keinen Engpass feststellen können. Ein Indiz, das seine These stützt: Wenn ein
Gut knapp ist, steigt normalerweise sein Preis. Doch nominal sind die Gehälter
der Ingenieure in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, berücksichtigt man die
Kaufkraft, sogar teilweise gesunken.

Den demografischen Wandel bezweifelt
Brenke nicht: Zwischen 2001 und 2009 ist die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
um 1,6 Millionen Menschen geschrumpft. Doch gleichzeitig ist die Zahl der
Erwerbspersonen - also derjenigen, die einen Job haben oder einen suchen - um
etwa eine Million Menschen gestiegen. Wie kann das sein?

Die Erwerbsneigung der Frauen unter 55
hat sich deutlich verstärkt, und bei den über 55-Jährigen nimmt sie bei beiden
Geschlechtern zu. Schreibt man beide Entwicklungen fort, sinkt die Zahl der
Arbeitskräfte bis 2020 um eine Million, bis 2030 um vier Millionen Menschen.
"Damit kann eine Gesellschaft umgehen", sagt Brenke. "Das ist doch das Komische
an der Debatte, dass sie dem Kapitalismus immer unterstellt, er sei ein starres
System. Dabei kann er flexibel auf Knappheiten reagieren."

So könnte die übertriebene Angst vor dem
Mangel paradoxerweise dazu führen, dass er nie eintritt. Allerdings hat das
Lamento auch handfeste Gründe: Ein Personalverantwortlicher eines deutschen
Großkonzerns formuliert es sehr deutlich, auch wenn er dann doch lieber nicht
namentlich genannt werden will: "Es ist eine ideologische Debatte, die das
Arbeitgeberlager nutzt, um die Zuwanderungsdebatte in Gang zu halten und über
das Angebot an Arbeitskräften die Höhe der Löhne und Gehälter zu beeinflussen."
Joachim Sauer vom Bundesverband der Personalmanager drückt es so aus: "Wenn wir
einen Fachkräftemangel hätten - was ich bezweifle -, dann frage ich mich doch:
Was wird denn dagegen getan?"

Fakt ist: Die deutsche Wirtschaft war in
den vergangenen 20 Jahren verwöhnt, musste kaum über Personalmarketing,
Weiterbildung ihrer Belegschaften, lebenslanges Lernen und altersgerechte
Arbeitsplätze sowie flexible Arbeitszeitmodelle nachdenken. Es gab mehr als
genug Nachwuchs, die Bewerber kämpften um die besten Jobs. Nun müssen manche
Unternehmen um die besten Bewerber konkurrieren.

Das Cover des "Human Resources Manager",
das Fachmagazin des BPM, zierte im Sommer ein Schreiben mit dem Betreff: "Keine
Bewerbung als Konstruktionsingenieur". Ein imaginärer Peter M. Schmidt sagt
damit einem Unternehmen auf dessen Inserat hin ab. Seine Gründe: Laut
Bewertungsplattformen im Internet sei die Unternehmenskultur "ausbaufähig", die
Firma biete keine flexiblen Arbeitszeitmodelle, und außerdem vermisse er eine
Vertrautheit mit Social Media, dem Internet überhaupt. "Sollten Sie Ihre
Defizite in der Zukunft abstellen, können Sie mich gern
kontaktieren."

"Die Bewerberfluten der Vergangenheit
sind Geschichte - gerade was Talente in den nachgefragten technischen Bereichen
anbetrifft", sagt Sascha Armutat von der Deutschen Gesellschaft für
Personalführung e. V. (DGFP). Und in vielen Unternehmen sei man sich dieser
Tatsache auch bewusst. Denn die Firmen hätten großen Einfluss darauf, wie knapp
die Ressource Arbeit wirklich werde - indem sie Fachkräfte anwerbe, sie ausbilde
oder diejenigen reaktiviere, die bereits altersbedingt ausgeschieden seien oder
eine familienbedingte Auszeit genommen hätten. Auch sei es in manchen
Berufsgruppen denkbar, Arbeitskräfte zwischen Unternehmen, bei denen es boome,
und anderen, die gerade nicht so viel zu tun hätten, auszutauschen.

"Die Lösung liegt in einer
ganzheitlichen betrieblichen Strategie gegen den Fachkräftemangel, die die
Attraktivität des Arbeitgebers bei der neuen Generationen steigert, die
Potenziale bisher unbeachteter Bewerbermärkte nutzt und die Employability
älterer Arbeitnehmer im Fokus behält", sagt Armutat. Er glaubt, dass in den
Firmen ein Umdenken begonnen hat, auch "wenn viele Unternehmen konzeptionell
weiter sind als bei der Umsetzung". Die Personalerbranche, die gern mit
Anglizismen wie "Employer Branding", "War for Talents" und "High Potentials" um
sich wirft, hat auch dafür schon einen geprägt: "Talk Action Gap."

Bemerkenswert ist: Am meisten stöhnen
diejenigen Unternehmen über den Fachkräftemangel, die sich bislang am wenigsten
um ihre wichtigste Ressource gekümmert haben.

Rudolf Kast hat nie gejammert.
Anderthalb Jahrzehnte vorbildliche Personalarbeit bei der Schwarzwälder Sick AG
trugen dem Unternehmen etliche Preise und ihm selbst das Bundesverdienstkreuz
ein. Fast jeder fünfte Mitarbeiter der Firma ist inzwischen älter als 50, und
Kast achtete darauf, dass diese Altersgruppe stets so groß war wie die Gruppe
der 20- bis 30-Jährigen. Die Verpflichtung jedes Mitarbeiters zu lebenslangem
Lernen hat er im Firmenleitbild festgeschrieben.

In einer Berufsgruppe herrscht
tatsächlich fachlicher Mangel: bei den Personalern

Zeitwertkonten, Weiterbildung,
Unterstützung bei der Suche nach Kinderbetreuung - all das ist bei Sick
selbstverständlich. Kast findet all das, was er in Waldkirch etabliert hat,
nicht außergewöhnlich, sondern einfach nur vernünftig.

Mittlerweile hat er sich mit der
Personalmanufaktur selbstständig gemacht. Er malt ein differenziertes Bild der
Praxis. Er weiß, dass die Auszubildenden zunächst nicht Mangelware sein werden,
weil das acht- und neunjährigeAbitur gerade dazu führt, dass zwei Jahrgänge die
Schule abschließen. Außerdem fällt noch die Wehrpflicht weg: "Ich rate, auf
Vorrat einzustellen."

Doch bereits heute sei es nicht einfach,
bestimmte Spezialisten in bestimmte Regionen zu locken. Kast glaubt nicht, dass
die meisten Unternehmen kreativ genug in ihrer Personalarbeit sind. Bei den
Mittelständlern fehle es an Konzepten. Bei den großen Unternehmen gebe es die
zwar, aber die Prozesse dort seien zu bürokratisch und unbeweglich.

Fest steht für ihn: "Die Politik kann da
gar nicht viel machen, die Wirtschaft muss selbst aktiv werden." Und seine
Kollegen in den Betrieben nimmt er in Schutz: "Viele Personaler sind operativ zu
bis über beide Ohren. In der Krise wurde dann noch mal gespart, da hieß es:
Wofür brauchen wir so viele Leute im Personalbereich?"

Fachkräftemangel also in der
Personalabteilung?

Diese Beobachtung hat auch der
Testbriefschreiber Axel Haitzer gemacht: Die Mitarbeiter dort hätten "die
administrativen Themen sehr gut drauf. Und natürlich muss die Gehaltsabrechnung
oder die Meldung zur Krankenkasse stimmen. Aber das sind typischerweise Leute,
die nicht gern kommunizieren." -





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